Lotte | Boneh |
Lotte Boneh was born Lotte Ramler in 1919 in Vienna and lived with her family in the 2nd district, where she went to high school. After the “Anschluss” in 1938 she was able to finish high school. Boneh’s sister had emigrated to Palestine years earlier and was able to get her a certificate with which she fled to Palestine. Their parents followed them, their brother fled to England. In Palestine, Boneh joined Haganah. At the time of her interview she lived in Israel. |
Full interview
Part 1 |
in chronological order
Teil 1
LB: Also ich bin in Wien geboren, und als Hitler im Jahr [19]38 nach Wien kam…im März [19]38 war ich in der achten Klasse, vor der Matura, und Hitler hat erlaubt, dass noch die letzte Klasse…Juden noch Matura machen dürfen. Und sogar hat er es uns erleichtert: Wir mussten nicht mündlich machen, denn er wollte, dass die Jungen rascher Matura machen, damit sie Offiziere werden können. Also haben wir Matura gemacht, und ich habe noch unter Hitler eine Maturaprüfung mit Auszeichnung gemacht – mit dem Hakenkreuz auf der Auszeichnung. Ich zeige es Ihnen, wenn Sie wollen. Ich habe das Maturazeugnis.
Die einzige Möglichkeit…ich hatte noch einen Bruder und eine Schwester. Die Schwester war Zionistin und war schon in Palästina viele Jahre, und mein Bruder, der fünf Jahre jünger ist, den hat man von der Jugend-Alija…nach England geschickt. Das war sehr gut, zu seinem großen Nutzen, denn er konnte perfekt Englisch und Deutsch und wurde nachher Dolmetscher bei den Nürnberger trials…Hauptdeutschmeister. Das ist eine andere Geschichte. Was mich betrifft, ich habe ein Zertifikat bekommen von meiner Schwester, die hier schon verschiedene Verbindungen hatte. Es ist ihr gelungen, ein Zertifikat nach Wien zu schicken, damit ich nach Palästina komme, und zwar in eine Landwirtschaftsschule, nach Nahalal. Das ist im Emek [Jizre'el] hier, bei der Hana Meisel. Das war die Direktorin, die sehr bekannt ist. Ich hätte müssen zwei Jahre in dieser Schule sein, aber meine Eltern, die allein blieben, ohne Kinder, und sehr unglücklich waren und außerdem sehr nach Palästina kommen wollten, zu uns…sie hatten kein Zertifikat, da beschlossen sie, illegal Wien zu verlassen. Und zwar haben sie alles, was sie besaßen, zurückgelassen – die Wohnung, das Geld, alles, was sie hatten – und sind mit einem Rucksack auf ein Schiff gegangen, was ein Vermögen gekostet hat, wo 1.000 Leute drinnen waren – einer über den anderen geschlafen –, und so waren sie auf dem Weg nach Palästina. Und ich, in der Landwirtschaftsschule, habe gesagt: „Was kann ich machen? Ich kann doch nicht hier sitzen und lernen, wie man die Kühe melkt und wie man die Wände vom Kuhstall sauber macht, während meine Eltern auf dem Weg nach Palästina sind, mit dem Rucksack, ohne nichts. Ich muss heraus, ich muss ihnen helfen!“ Daraufhin ging ich zu der Leiterin, zu Hana Meisel, und sagte ihr: „Tut mir leid, aber ich muss euch verlassen. Meine Eltern sind unterwegs nach Palästina mit nichts, und ich muss ihnen helfen. Ich kann nicht zwei Jahre bleiben. Ich muss weg! Ich muss ihnen helfen!“ Daraufhin sagte sie: „Willst du nicht legal im Land sein?“ Denn ich musste zwei Jahre…um legal zu sein. Da sagte ich: „Dann werde ich eben illegal sein.“ Und ich bin weggegangen und habe Arbeit gesucht und habe verschiedene Arbeiten gefunden.
Meine erste Arbeit, wenn Sie das interessiert, war…ging ich zu meiner Schwester, die am Französischen Karmel gewohnt hat, in Haifa. Und bei ihrer Wohnung, im Haus, wohnte eine englische Familie, Major Taylor, mit seiner Frau und einem Kind. Und die Frau Taylor wollte ins Kaffeehaus gehen mit ihren Freundinnen und suchte jemanden, der sich um ihre kleine Tochter kümmert. Da habe ich die kleine Tochter genommen und bin mit ihr spazieren gegangen. Das war meine Aufgabe. Das war mein erster Verdienst. Und so bin ich mit ihr spazieren gegangen, und eines Tages teilt sie mit, dass sie nach Sarafand übersiedeln müssen. Sarafand war eine Basis…wie sagt man…fürs Militär.
LSY: Eine Basis sagt man auf Deutsch.
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LB: Nein, das ganze Militär war dort. Auf jeden Fall habe ich gesagt: „Da kann ich nicht mit. Was mach’ ich dort mit den Engländern? Da muss ich weg.“ Und am letzten Tag, als ich mit dem Kind noch spazieren ging, auf dem französischen Karmel, traf ich den Mr. Spinney, wenn Sie wissen, wer das ist. Mr. Spinney, das war der Leiter einer ganz großen Gesellschaft, Spinney's Ltd. Das ist so wie hier im Lande המשביר המרכזי [Hamashbir Hamerkazi], und er war der Leiter von allem. Und er fragte, “How are you? What are you doing?” – “I am leaving with Major Taylor, because they are going to Sarafand.” – “Do you want a job?” – “Of course.” Auf jeden Fall, kurz, er schickte mich zu seinem chief accountant, und er hat mir eine Prüfung gemacht und ich wurde…er sagte am nächsten Tag: „Wann kannst du beginnen?“ Da sagte ich: „Sobald sie wegfahren.“ – „Dann komm’ sofort in mein Büro und mache eine Prüfung, und wenn du durchkommst, dann hast du einen Job.“ Ich habe eine Prüfung gemacht, einige Additionen, ganz was Leichtes, es war kein Problem. Und am nächsten Tag habe ich eine Arbeit bekommen, zuerst einmal in seinen…der Spinney hat im ganzen Land überall Geschäfte gehabt – große, wie grocery, Full-worth, alle möglichen. In einem der großen Geschäfte hatte ich einen Job als Kassiererin, bei der Kassa. Und nach einiger Zeit kam ich ins Hauptbüro, und dann immer so weiter. Und im Laufe der Zeit habe ich meine…immer verbessert meine berufliche Tätigkeit, von einem Büro zum anderen. Zum Schluss kam ich in ein großes Büro in Chemi Trade. Ein Büro, das ist für יצוא ויבוא [Hebräisch: Export und Import] heißt das…Export und Import, für Chemikalien von Farbwerke Hoechst [AG]. Da haben wir das importiert. Also, das war mein Job, meine Arbeit.
Und meine Eltern inzwischen, das ist eine andere Geschichte. Sie waren unterwegs, und das Schiff, auf dem sie waren, konnte nicht weiterfahren. Es ist in Jugoslawien, bei Kladovo-Šabac [zuerst bei Kladovo, dann bei Šabac], steckengeblieben und musste auf den Strand. Wie sagt man? Alle Leute mussten raus. Und die Eltern sind krank geworden und mussten dort im Regen in Zelten übernachten. Sie bekamen Malaria und Typhus und alle möglichen Krankheiten. Und sie waren in diesen Zelten mit allen Schiffseinwohnern in Kladovo-Šabac [zuerst in Kladovo, dann in Šabac] – das ist sehr bekannt. Dort sind sie gewesen, und wir haben uns hier im Land bemüht, ihnen ein Zertifikat zu beschaffen. Das war nicht so einfach. Nach zwei Jahren – bis [19]41 – ist es meiner Schwester gelungen, ihnen ein Zertifikat zu schicken, dass sie nach Palästina einwandern könnten. An dem Tag, an dem sie das Zertifikat kriegen, in derselben Nacht, sind sie über den Landweg über die Türkei, Syrien nach Palästina gekommen. Und in derselben Nacht, als sie dort verließen, mit noch ungefähr 200 Kindern, wurde Kladovo-Šabac [meint Šabac], wo sie waren, von den Deutschen bombardiert, und alle Leute sind dort umgekommen. Und sie haben sich noch gerettet, aber sie waren in einem sehr…ziemlich schlechten Zustand. Und trotzdem kamen sie ins Land, das war im Jahr 41…1941, das war im Krieg. Und da haben wir in der deutschen Kolonie eine Wohnung gefunden, ein kleines Haus. Weil die Deutschen weggegangen sind…die Araber…die Deutschen haben es verlassen, und wir sind in so ein Haus reingekommen. Das war zweistöckig. Die Eltern haben unten gewohnt, in der Küche und im Zimmer, und zwei Zimmer waren oben, das war für mich und für meine Schwester. Und da begannen natürlich, in der Zeit, die großen Unruhen hier im Land. Es wurde geschossen von allen Seiten. Und von einer Straße, die vis-à-vis von unserer Straße war, waren die Araber. Und die haben auf unser Haus geschossen, und da ist eine Kugel in die Wand reingekommen. Das war ein Zimmer vor meinem Zimmer, und das hat ein großes Loch gemacht. Das Loch habe ich nicht ausgebessert. Ich habe darauf ein Bild gehängt. Das Zimmer wurde nach vielen Jahren das Kinderzimmer – mit dem Loch und mit dem Bild. Das Bild ist immer geblieben.
1/00:11:05
Also, was soll ich machen…ich mache es kurz. Es waren schwere Unruhen, die Eltern konnten in der deutschen Kolonie nicht bleiben, weil dort wurde von allen Richtungen geschossen, und mich hat man mit einem Panzerwagen in die Stadt zur Arbeit geführt – weil ununterbrochen geschossen wurde, von allen Seiten. Ich war in der Haganah…weißt du, was das ist? Ich war in der Haganah, und ich war eine מפקדת [hebräisch: Kommandeurin], eine…wie sagt man מפקדת [hebräisch: Kommandeurin]? Ich war eine Leiterin für alle Mädchen von der deutschen Kolonie und von Bat Galim…verantwortlich für alle. Und in meiner Wohnung war auch die Haganah. Ein Zimmer war für die Haganah, und ein Zimmer war für mich, und unten, wo die Eltern gewohnt haben, das habe ich dann vermietet an jemanden. Auf jeden Fall, es war sehr schwer, so zu wohnen. Ich habe dazwischen meinen Mann kennengelernt. Der war bei der Royal Navy und nachher bei חיל הים שלנו [hebräisch: unserer Marine]. Und dann, wie wir geheiratet haben…er war ja die ganze Zeit beim Militär, und ich war allein. Ja, und eines Tages, in der Hochzeitsnacht…die Hochzeit war מהדר [hebräisch: religious], ganz klein, nur beim Rabbiner. Und מנין [hebräisch: Minjan], das heißt zehn Leute zusammen…hatten wir gar nicht. Die mussten wir von der Straße zusammenrufen, damit sie zusammenkamen. Und als Geschenk hatte ich eine Flasche Cognac, das war alles. So kamen wir nach Hause, und in der Hochzeitsnacht hat es geschossen von allen Seiten, und wir haben unter dem Bett geschlafen. Am nächsten Tag in der Früh klopft es an der Tür, und da steht ein Colonel אנגלי [hebräisch: englischer] draußen und sagt, “Good morning! Haifa is in your hands.” Haifa wurde befreit…von den Arabern. Und wir sind dann zur Terrasse gegangen und haben herausgeschaut und haben gesehen, vom Wadi Nisnas sind alle Araber in Richtung zum Meer weggefahren…geflüchtet. Das war das…und die guten Nachbarn, die wir hatten, die Araber, die waren sehr nett. Die haben gesagt: „Sorgt euch nicht. Wenn was ist, werden wir euch helfen. Und wenn bei uns was ist, werdet ihr uns helfen.“ Aber nachher wurden die Araber ins Wadi Nisnas, das ist ein arabisches Viertel, gebracht. Und jemand anderer kam zu uns.
Mein Mann wurde nachher von der Armee befreit, und dann hatte ich zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Und wie sie größer wurden, wollte ich mich von der deutschen Kolonie verbessern, und da sind wir auf den Karmel gezogen. Und so weiter fort…und ich habe immer weitergearbeitet, auch während die Kinder waren. Da hatte ich jemanden für die Kinder, dass ich weiterarbeiten konnte. Was soll ich dir noch erzählen?
LSY: Darf ich noch ein paar Fragen stellen?
LB: Du kannst Fragen stellen. Hast du noch viel zu fragen?
1/00:15:00
LSY: Ein paar Sachen.
LB: Bitte, alles.
LSY: Ich gehe noch einmal ein bisschen zurück in die Zeit nach Wien. Was für Erinnerungen hast du noch an deine Kindheit? Wie sah dein Elternhaus aus? Was haben deine Eltern gemacht?
LB: Ich kann mich an Wien erinnern, als Hitler war, da mussten wir von der Straße sauber machen, auf Knien, die Reklame von [Kurt] Schuschnigg. Der war…vor Hitler war Schuschnigg. Da hat man Reklame gemacht auf dem Fußboden, auf dem Parterre. Und da hat man mich und meinen Bruder genommen, mit Bürsten in der Hand, damit wir das sauber machen. Das kann ich mich erinnern, das werde ich nicht vergessen. Sonst haben wir ein normales…ziemlich…wir haben ein kulturelles, normales Leben gehabt zu Hause. Mein Vater war in der Textilbranche, meine Mutter hat nicht gearbeitet, hatte Hilfe zu Hause. Und hier hat sie dann ein sehr schweres Leben gehabt, weil sie nicht gewohnt war, alles allein zu machen, und sie konnte die Sprache nicht. Sie haben sich sehr schwer hier im Land eingelebt.
LSY: Hatten Sie damals schon eine zionistische Erziehung zu Hause?
LB: Meine Schwester war Zionistin, und ich war noch jung. Aber wir waren zionistisch, ja. Die Eltern waren…sie wollten sehr gerne nach Israel. Sie wollten ein Zertifikat, aber sie konnten nicht.
LSY: Können Sie sich noch an Ihre Schule erinnern, damals in Wien?
LB: An die Schule, ja. Ich war in der Volksschule, und nachher ging ich ins Gymnasium. Das war in der Novaragasse, im zweiten Bezirk. Weißt du, wo das ist?
LSY: Ja.
LB: Realgymnasium für Mädchen hat es geheißen. Und--
LSY: --war das eine jüdische Schule?
LB: Nein, es war keine jüdische Schule. Wie Hitler kam, hat man alle Lehrerinnen…herausgeschmissen. Und wir haben plötzlich bekommen von Deutschland, ganz junge Lehrerinnen, ganz junge Mädels, die uns statt denen…und wir wussten noch nicht, was uns erwartet, und da waren wir ziemlich frech. Ich kann mich erinnern, wir haben die eine gefragt: „Kannst du uns [Albert] Einsteins Theorie erklären?“ Einstein ist ein Jude gewesen. Wir haben sie so in Verlegenheit gebracht, weil wir haben uns getraut. Das war der erste Eindruck. Und alle Lehrer, von denen…der Religionslehrer, der musste auch weg.
LSY: Können Sie sich noch an Ihren Freundeskreis damals erinnern?
LB: Ich hatte sehr gute Freundinnen. Aber sie mussten alle auf verschiedenen Wegen Wien verlassen. Meine beste Freundin hat versucht, nach…irgendwie raus, und da hat man sie am Weg erwischt und zurückgebracht…zurückgeschickt. Dann hat sie es nochmals versucht, und dann ist sie in die Schweiz gekommen, und nachher ist sie…dann waren wir sehr lange in Verbindung. Nachher hat sie geheiratet und ist nach Amerika gekommen. Da habe ich auch noch mit ihr Verbindung gehabt, mit E-Mail, und dann plötzlich hat es aufgehört. Ich habe es versucht, aber ich konnte sie nicht mehr finden…überhaupt keine Adresse und…ich habe den Namen und alles, beim E-Mail gesucht…nicht gewusst, was mit ihr passiert ist. Das war meine beste Freundin. Nach der Schule sind wir immer stundenlang draußen spazieren gegangen, hin und her, und haben uns unterhalten…stundenlang! Meine Mutter sagte: „Wo warst du so lange?“ Längst war die Schule schon zu Ende, und wir haben uns noch unterhalten. Wir haben nicht weit voneinander gewohnt. Also, es war…Annie Konstant hat sie geheißen. Vorher hat sie geheißen Annie Lamensdorf. Dann hat sie Konstant geheißen. Was soll ich dir noch erzählen?
1/00:20:06
LSY: Können Sie sich noch an Ihre Lieblingsorte in Wien erinnern, wo Sie oft waren?
LB: Meine Eltern waren nicht so…wie soll ich sagen…sie machten nicht so viele Ausflüge und so weiter. Sie waren mehr…hausbacken. Aber von der Schule haben wir verschiedene Ausflüge gemacht. Ich kann mich noch an Schönbrunn erinnern. Ich war inzwischen schon zweimal in Österreich, da habe ich mir das alles wieder mal angeschaut. Ich wurde eingeladen von dem Jewish Welcome Service. Weißt du von dem?
LSY: Kenne ich, ja.
LB: Da war ich einmal eingeladen, und das war sehr schön – zusammen mit Teddy Kollek, das war der Bürgermeister von Jerusalem. Und da waren wir zusammen, da haben wir schöne Empfänge gehabt, und es war sehr interessant. Und dann habe ich einmal meinen Enkel eingeladen, dem wollte ich Wien zeigen. Wie ich eingeladen war, konnte ich jemanden mitnehmen, da habe ich meine Tochter mitgenommen. Und das hat sie auch sehr genossen. Und dann habe ich einmal meinen Enkel eingeladen und habe ihm Wien gezeigt und bin mit ihm rumgefahren. Und ich wollte ihm die Oper zeigen, und da bin ich…habe ich eine Karte gekauft für Carmen, das war schrecklich teuer, aber ich wollte ihm eine Oper zeigen. Und ich komme zu Carmen, und wir sahen die Oper in modern. Stell’ dir vor, Carmen mit Mini[rock]! Ich war so enttäuscht! Er wusste nicht, was zu erwarten, aber es war furchtbar. Außer dem schönen Platz von der Staatsoper, wo er sehr begeistert war, aber von…Carmen, das war eine große Enttäuschung. Kannst du dir das vorstellen?
LSY: Ja. [Lacht.] Ja, heute sind die oft so modern gemacht, die Opern und Theaterstücke.
LB: Schrecklich.
[Übergang/Schnitt.]
LSY: Waren Sie und Ihre Familie damals überrascht über die positive Reaktion der Österreicher auf die Deutschen beim Anschluss? War das überraschend, dass die Österreicher so begeistert waren, als die Deutschen gekommen sind?
LB: Ich habe in Wien im zweiten Bezirk gewohnt. Da waren meistens nur Juden. Wir haben keinen Kontakt gehabt mit den Österreichern, fast kaum – außer mit der Hausmeisterin, mit der Frau Schmalzbauer. Ich kann mich genau erinnern. Weißt du, wie alt ich bin?
LSY: Wann sind Sie geboren? 1919?
LB: Du kannst sagen [19]20, weil am 25. Dezember.
LSY: Sie sehen viel jünger aus.
LB: Ich fühle mich auch jünger…außer die körperlichen Probleme. Ich habe ein Knie…das Knie wurde ausgetauscht, das eine. Das andere kann man nicht mehr austauschen, das ist eine sehr schwere Operation, das macht man bei mir nicht mehr. Und das tut mir jetzt sehr weh, und deshalb muss ich mit dem walker gehen…oder mit einem Stock, draußen. Aber ich versuche, alles mitzumachen. Ich turne, mache Yoga, und bin…nachdem ich in der Sportstraße im zweiten Stock gewohnt habe und die Sportstraße sehr steil ist, musste ich weg. Und dann bin ich nach der Operation vom Knie hierhergekommen.
LSY: Wann war das? Wie lange sind Sie schon hier?
LB: Ich bin schon acht Jahre hier. Im Jahr [19]95 [meint 2005] bin ich gekommen. Und ich bin sehr zufrieden, weil ich mache hier alles mit, was es gibt.
LSY: Gibt es viel Programm?
LB: Hier gibt es jedes Mal Programm. Turnen, Yoga, ich mache französische Konversation, weil ich in der Schule Französisch gelernt habe. Und dann gibt es hier jeden Abend Vorträge, Musik, sehr viel Musik, Konzerte und Vorträge…Verschiedenes. Never a dull moment, wie man sagt.
1/00:25:27
[Übergang/Schnitt.]
LSY: Ich stelle noch kurz einige Fragen.
LB: Frag’, was du willst.
LSY: Können Sie sich noch an Antisemitismus erinnern, auch bevor die Deutschen gekommen sind?
LB: Ich sage dir doch, ich habe keine Gelegenheit gehabt mit christlichen Leuten…das heißt mit…wir haben nur einen jüdischen Kreis gehabt. Unsere Freunde waren Juden, die Familie…meine Eltern waren…in dem Alter waren wir am meisten mit Familie zusammen. Die ganzen gesellschaftlichen Treffen waren familiär. Das waren Geschwister, Neffen, aber nicht…und geschäftlich auch nur mit Juden, in der deutschen…im zweiten Bezirk. So habe ich kein antisemitisches…und die Hausmeisterin, die die einzige Christin war, hat unter Juden gelebt und hat sich vollkommen angepasst. Die war ganz in Ordnung.
LSY: War Ihre Familie fromm?
LB: Nicht fromm, aber meine Mutter war koscher zu Hause, ja. Mein Bruder, das ist eine interessante Geschichte. Mein Bruder hat Wien verlassen mit der Hilfe der Agudath Israel. Das ist eine fromme…und da wurde er schrecklich religiös zu Hause, durch die, und hat plötzlich Terror gemacht. Am Sabbat durften wir kein Licht anmachen und so weiter. Und dann ist er nach England gekommen und hat sofort…חזר בשאלה [hebräisch: hat sein Glauben verloren ] nennt sich das. Also wurde er ganz anders. Nachdem er so gut den Krieg überstanden hat…nach dem Krieg, nachdem er so gut Englisch und Deutsch konnte, wurde er als Dolmetscher zu den Nürnberger trials genommen. Und er wurde der head Deutschmeister. Siegfried Ramler hat er geheißen, sehr bekannt, E-Mail kannst du finden. Und eines Tages gingen wir zu einem Film über die Schoah, und da hat man auch den Nürnberger trial gezeigt. Und da sah ich plötzlich meinen Bruder Sigi auf dem Podium sitzen, mit den Hörern und sein…da war ich so aufgeregt, wie ich ihn gesehen habe, und da habe ich ganz laut geschrien: „Sigi! Sigi!“ Die Leute im Kino haben gemeint, ich bin verrückt. [Lacht.]
LSY: Im Kino haben Sie den trial gesehen--
LB: --den Nürnberger trial hat man gezeigt, und da hat man ihn gesehen, wie er sitzt am Podium, mit den Hörern, und spricht. Da war ich so aufgeregt. – „Sigi!“ Die Leute haben geglaubt, ich bin verrückt, was ich da schreie.
LSY: Hat er Ihnen später auch von den trials erzählt?
LB: Ach, er hat geschrieben. Er hat zwei Bücher geschrieben. [Steht auf.] Ich zeige sie dir.
1/00:29:21
[Übergang/Schnitt.]
LSY: Mich interessiert noch, hast Du schon vorher Hebräisch gelernt, bevor Du nach Palästina gekommen bist?
LB: Nein.
LSY: Also hier erst gelernt? War das am Anfang schwer?
LB: Nein. Ich war in einer בית ספר [hebräisch: Schule ] in Nahalal. Da habe ich noch begonnen. Es ist gegangen, es war ganz einfach.
LSY: Wie war es allgemein, sich hier einzuleben? War es eine große Umstellung?
LB: Nein. Ich habe mich ziemlich rasch hier eingewöhnt.
LSY: Für die Eltern war es schwieriger, als sie hergekommen sind?
LB: Sehr…für die Eltern war es sehr schwer. Meine Mutter war nicht an die Sprache gewöhnt. Mein Vater, der konnte durch die Bibel, die er gekannt hat, besser hebräisch sprechen. Das war viel einfacher.
LSY: Und hatten Sie immer auch viel Kontakt mit anderen, die aus Österreich gekommen waren, die deutschsprachig waren – oder war es Ihnen nicht so wichtig?
LB: Nein, da hatte ich keinen Kontakt. Weil in Nahalal waren keine aus Österreich. Dann nachher…hatte ich hier nicht…andere Nachbarn. Ich hatte eine italienische Nachbarin. Mit der konnte ich überhaupt nicht sprechen. Dann bin zu Dante Alighieri [Sprachschule] gegangen und habe Italienisch gelernt, damit ich mit ihr sprechen kann. Sie kam mit drei Kindern, hat keine Zeit gehabt, Iwrit zu lernen. Da habe ich schon gearbeitet.
LSY: Und woher kam Ihr Mann?
LB: Mein Mann hat gearbeitet…war zuerst im Militär, bei der חיל הים [hebräisch: Marine], zuerst bei der Royal Navy und dann beim חיל הים [hebräisch: Marine]. Und dann hat er gearbeitet…zum Schluss hat er bei ZIM [Zim Integrated Shipping Services Ltd.; israelisches Schifffahrtsunternehmen] gearbeitet. Dann war er bei מבקר המדינה [hebräisch: Staatliche Rechnungsprüfung]…hat er gearbeitet. Dann wurde er pensioniert, und hat er geschrieben, zwei Bücher…auf Iwrit.
LSY: Ihr Mann ist hier im Land geboren?
LB: Ja. Mit meinem Mann habe ich nur iwrit gesprochen. Deshalb können die Kinder nur Iwrit, weil wir zu Hause nur iwrit gesprochen haben.
[Übergang/Schnitt.]
LSY: Und wie war das für Sie, das erste Mal wieder nach Österreich zu fahren?
LB: Ich habe mich nicht danach gesehnt. Ich habe mich schon in Israel so zu Hause gefühlt, das war schon mein richtiges Heim. Die ersten…ich bin zu meiner Wohnung gegangen, konnte gar nicht herein, da war irgendetwas anderes, ein Büro, dort. Ich konnte nicht herein. Und alles kam mir so klein vor…ungewohnt. Also ich glaube, ich habe dir schon sehr viel erzählt. Ich glaube, es bleibt nichts mehr übrig.
[Ende des Interviews.]