Peter Neubauer

Peter Neubauer wurde 1913 in Krems an der Donau geboren. In seiner Jugend war er in sowohl in sozialistischen wie auch in zionistischen Jugendgruppen aktiv. Neubauer begann sein Medizinstudium an der Universität Wien, emigrierte aber nach den Februarkämpfen 1934 in die Schweiz, wo er sein Studium an der Universität Bern fortsetzte und abschloss. In der Schweiz war er als Assistenzarzt tätig, bevor er 1941 über Frankreich, Spanien und Portugal in die USA emigrierte. Neubauer wurde zu einem international etablierten Psychiater und Universitätsprofessor. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte er in New York City.

Vollständiges Interview

Teil 1
Teil 2
Art des Interviews:
Audio
Ort des Interviews:
New York City, USA
Sprache(n) des Interviews:
Deutsch
InterviewerIn:
Thomas Geisler
Interviewdauer:
01:52:08
Bestand:
LBI New York
Sitzungsanzahl:
2
Datum des Interviews:
23. September 1999 bis 28. Oktober 1999
Peter Neubauer
Weitere Vornamen:
Bela
Geburtsdatum:
5. Juli 1913
Geburtsort:
Krems an der Donau, Österreich
Fluchtroute
1934 Pisa, Italien
1934 Bern, Schweiz
1941 Frankreich
1941 Spanien
1941 Lissabon, Portugal
1941 Bermuda
1941 New York City, USA
Lebensstationen
Hier sind in chronologischer Reihenfolge Orte erfasst, an denen sich die interviewte Person im Laufe ihres Lebens aufgehalten hat.
Krems an der Donau, Österreich
Wien, Österreich
Bern, Schweiz
New York City, USA
Organisationen
Sozialistischer Jugendbund - Krems an der Donau, Österreich
Blau-Weiß - Krems an der Donau, Österreich
Hashomer Hatzair - Krems an der Donau, Österreich
Kremser Symphonieorchester - Krems an der Donau, Österreich
Jewish Board of Guardians - New York City, USA
Ausbildung
höhere Schule
Realschule Krems (heute: BRG Krems)
Ringstraße 33, 3500
Krems an der Donau, Österreich
bis 1934
Hochschule
Universität Wien
Wien, Österreich
1934 bis 1941
Hochschule
Universität Bern
Hochschulstrasse 6, 3012
Bern, Schweiz
Beruf/Beschäftigung

in chronologischer Reihenfolge

Assistenzarzt
Gesundheit, Medizin
Schweiz
Bern
Psychiater
Gesundheit, Medizin
USA
New York City
Professorin
Gesundheit, Medizin
USA
New York City
„Spricht über“ sind besonders interessante Passagen in den Interviews, die von der Redaktion des Austrian Heritage Archive zusammengestellt wurden.
Leben und Aufwachsen in Krems an der Donau
Antisemitismus in Krems
Zwischenkriegszeit in Krems
Antisemitismus in der Wiener Medizin
Erinnerungen an die Februarkämpfe 1934
Umgang mit dem ,Anschluss’ Österreichs in der Schweizer Gesellschaft
Mühevolle Vorbereitung der Emigration in die USA
Sozialistisch-zionistische Ideologie und die kapitalistischen USA
Arbeitsbedingungen in der McCarthy-Ära
Heimatlosigkeit
Rückkehr nach Österreich nach 1945

Teil 1

TG: Das ist tape one eines Interviews für die Austrian Heritage Collection, geführt mit Peter B. Neubauer, geführt von Thomas Geisler am 23. September 1999 in New York City. Herr Neubauer, Sie sind am 5. Juli 1913 in Krems an der Donau geboren.

PN: Das ist richtig.

TG: Ich würde gerne anfangen über Ihre Familie zu sprechen. Haben Sie eine Erinnerung an Ihre Großeltern?

PN: Ja, natürlich. Die Eltern meiner Mutter lebten in Wien, in der Rembrandtstraße, im 2. Bezirk. [Räuspert sich.] Und ich kann mich an die sehr gut erinnern. Das waren einfache Leute, religiös, wie jede um diese Zeit, mit vielen…acht Kindern. Und ich kann mich auch noch an den Urgroßvater erinnern, der blind war von einem der Kriege und auch da gelebt hat. Die meisten meiner Onkel und Tanten sind umgekommen im Lager. Die Eltern meines Vaters waren im Burgenland, in Deutschkreutz, an der Grenze. Die haben ungarisch und deutsch gesprochen. Es ist eine deutsche Stadt, aber an der Grenze. Und die hatten in einer sehr religiösen Stadt gelebt…jüdisch-religiösen Stadt gelebt, eine der wichtigsten jüdisch-religiösen Städte. Und die habe ich sehr häufig besucht. Die waren streng religiös, aber haben nichts verstanden.

TG: Waren sie chassidische Juden?

PN: Nein, nein, das waren orthodoxe Juden, von Anfang…vom Morgen an. Die ganze Stadt war so. Das ganze Dorf war so, mit dem Rabbiner, der dort das Zentrum des Lebens war. Von der Früh an war da ein Mann, der an jede Tür geklopft hat, an jede jüdische Tür angeklopft hat, um die Leute zum Beten einzuladen und zu sagen: „Es ist sieben Uhr für das Frühstücksgebet. Es ist acht Uhr, das ist das letzte Mal, dass sie jetzt kommen können.“ Der ganze Tag war unter religiösen…und die waren auch noch sehr, sehr damit verbunden. Aber der Wiener Großvater--

TG: --den Namen?

PN: Blau. Der hat wirklich studiert, was das religiöse Leben zum Sinn hat. Der hat es verstehen wollen, der war nett darüber. Und der hat uns zum Beispiel besucht in Krems, und ich kann mich erinnern…das war sehr beeindruckend für mich, zwei Sachen, die er gesagt hat oder getan hat. Er hat angefangen mit…ich war ungefähr sieben oder acht oder neun Jahre alt. Er hat angefangen und gesagt: „Warum werden wir nicht zusammen die Tora lesen, die Bibel lesen?“ Und da hat er gesagt: „Na, schön! Der erste Satz ist: ‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.‘“ Im Hebräischen ist das: בראשית ברא אלהים את השמים ואת הארץ [hebr.: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde].

In the beginning…so ist das übersetzt. Das sagte er: „Studieren wir das einmal. Warum soll das erste Wort der Bibel, das so heilig ist, ‚am Anfang‘ sein?“ Wenn man an das Wort בְּרֵאשִׁית‎ [hebr.: am Anfang; ב  -be – im, ראש – rosch, hebr.: Kopf] denkt, בְּרֵאשִׁית means der Kopf, nicht der Anfang, und das Geistliche. Natürlich war das erste Wort der Bibel das Geistliche. Wie konnten die das so übersetzen, dass sie da einfach sagen: „am Anfang“? Weil es das erste ist, aber das erste ist ראש [hebr.: Kopf]. Dann hat er gesagt: ברא אלהים [hebr.: schuf Gott]. אלהים [hebr.: Gott], warum ist Gott dann im Plural? Nicht der Gott, bei אלהים [hebr. Gott] ist es Plural…ist das der Zusammenhang von vielen Göttern in einem Gott? Warum sind die ersten zwei Bücher von der Bibel wird Gott immer im Plural gesprochen und nicht wie später als אֲדֹנָי [hebr.: „Mein(e) Herr(en)“] und so fort. Es ist der Gott.

 

1/00:05:22

 

Und er ist von Satz zu Satz gegangen und hat uns gelernt, wirklich den Text zu untersuchen, wie man lesen soll und wie man das wirklich verstehen kann und sich jedes Wort ansehen soll. Das war ganz neu für mich, die Art zu lesen und es zu verstehen. Und das hat…das war wunderbar. Das hat er getan, ein ganz einfacher Mann. Und dann hat er auch gesagt, er ist jetzt sehr glücklich. Und wir haben gesagt: „Ja, was ist los?“ Da hat er gesagt: „Naja, ich bin jetzt über 60 Jahre, und man hat mir erlaubt, die Kabbala zu lesen und zu lernen. Und das war so wunderbar für mich, dass ich eine Erlaubnis bekommen habe von anderen Leuten, dass ich jetzt genügend reif bin, im Alter von 60, dass ich das tun darf.“ Denn man kann es ja nicht allein machen…man soll es nicht allein machen, sondern immer mit den anderen. Da ist ein einfacher, 60-jähriger Mensch, der begeistert ist, dass er so etwas lernen kann. Das war für mich so etwas…das war ganz besonders. Was für Menschen sind das, die…das war wichtig im Leben. So, das waren die Eltern…meine Mutter gebürtige Wienerin, mein Großvater auch. Aber ein Teil der Blaus sind aus der Tschechoslowakei gekommen, nach Wien. Und die anderen sind dort geboren, wie gesagt. Die sind umgekommen, mit einer Ausnahme. Und die Eltern meines Vaters auch. Einige sind nach Palestine gegangen, Israel, die anderen sind auch umgekommen. Da waren auch sieben oder acht Kinder.

TG: Wie kam es, dass Ihre Eltern nach Krems gekommen sind?

PN: Mein Vater war ein Chasan, ein Kantor, und ein Lehrer, ein jüdischer Lehrer. Und er…man hat ihn gefragt, ob er kommen würde, um sich dort niederzusetzen, um die Gemeinde zu leiten. Und das hat er angenommen. Wir sollten auch nach Jugoslawien gehen, hat er mir erzählt, aber er hat dann Krems…wenn wir in Jugoslawien gewesen wären, wären wir wahrscheinlich alle umgekommen. Aber er hat Krems genommen. Die anderen Kremser waren alle in Krems geboren, die sind nicht dazugekommen. Die waren schon dort seit Kindheit.

TG: War das, bevor Sie geboren sind, können Sie sich erinnern? Wann sind Ihre Eltern ungefähr nach Krems gekommen?

PN: Die sind ungefähr gekommen zur Zeit, wo wir geboren wurden. Das heißt 1912 oder [19]11, ungefähr um die Zeit. Und dann ist mein Vater…hat er sofort…war er Volontär für den Krieg, [19]14–[19]18, für den Ersten Weltkrieg. Und so war er für vier Jahre im Krieg.

TG: Ihre Mutter war berufstätig--

PN: --Wienerin. Ja, sie ist in Wien geboren, ihre Eltern auch. Sie haben in Wien geheiratet und sind dann nach Krems gekommen.

TG: Ich nehme an, Ihr Vater hat eine Ausbildung in Wien absolviert?

PN: Nicht so sehr in Wien als in Ungarn…in Budapest, in Sopron, in Ödenburg, und in…soviel ich das weiß, nicht in Wien.

TG: Können Sie sich daran erinnern, wie das Leben in der jüdischen Gemeinde in Krems stattgefunden hat?

PN: Ja. Da war eine kleine Gemeinde.

TG: Können Sie sich in etwa erinnern, wie viele Mitglieder?

PN: Ich glaube, da waren ungefähr 50 oder 60 Familien, ungefähr 200 oder 250 Leute. Wir haben ein Heim gehabt, wo sich die Leute getroffen haben und wo wir diese Vorführung gemacht haben, wo wir gespielt haben, wo die Leute am Samstag zusammengekommen sind, am Samstagabend. Die jüdische Gemeinde war nicht religiös. Die sind an den Feiertagen, den hohen Feiertagen, gekommen, aber ansonsten waren sie nicht religiös. Die…

 

1/00:10:38

 

TG: War Ihr Elternhaus religiös?

PN: Wir waren religiös, aus zwei Gründen: Weil die Eltern meiner Eltern, wenn die auf Besuch gekommen sind, die hätten mit uns nicht gegessen oder gewohnt, wenn wir nicht koscher gewesen wären, wenn wir nicht religiös gewesen wären. Und dann, mein Vater hat auch dran geglaubt, bis zur Zeit wo wir, mein Bruder und ich, ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahre alt waren und Sozialisten geworden sind und kämpferische Sozialisten geworden sind. Und wir haben ihn langsam beeinflusst auf die kommunistische oder sozialistische Idee, dass Religion oder Religiosität nichts mit neuer Wissenschaft und Aufklärung zu tun hat, und da muss man doch davon wegkommen. Zusätzlich habe ich auch etwas über [Sigmund] Freud gelesen. Und er hat gesagt, das ist eine Neurose, die Religion, und so fort. Und wir haben das dann so angenommen als Jugendliche und haben auch unseren Vater beeinflusst. [Lacht.]

TG: Können Sie noch irgendwie etwas erzählen aus dem kulturellen Leben?

PN: Die Leute waren…die meisten Leute haben Geschäfte gehabt. Da war ein Rechtsanwalt, ein jüdischer Rechtsanwalt. Da war kein Arzt, da war kein Lehrer – mit Ausnahme von meinem Vater. Die waren alle…waren bürgerliche Leute, die ein Geschäft gehabt haben, eine Familie gehabt haben, spazierengegangen sind, miteinander gesprochen haben. Manche waren überhaupt nicht jüdisch und haben mit der jüdischen Gemeinschaft nichts zu tun gehabt, und manche haben sich mehr und mehr dran angeschlossen, besonders als ein Teil der jüdischen Gemeinschaft zionistisch geworden ist. Und die zionistischen Mitglieder sind sehr aktiv gewesen. Und ich war zuerst in einem sozialdemokratischen Jugendbund, als ich circa sieben, acht Jahre alt war, mit den blauen Hemden. Und dann bin ich vom sozialistischen in den zionistischen Jugendbund gekommen, dem Blau-Weiß.

TG: Im Alter von sieben, acht, war es politische Überzeugung, oder war es irgendeine Art Freizeitgestaltung?

PN: Das war noch nicht politisch, nein. Das macht man so. Nachdem alle Juden dort…so wie ich das gewusst habe, waren alle Sozialdemokraten. Christlichsozial konnten sie ja nicht sein, zu dieser Zeit. Da ist ja überhaupt nichts anderes übrig geblieben für die Juden, als Sozialdemokraten zu sein…so sozialdemokratisch mit sozialdemokratischem Jugendbund, das war dann natürlich. Aber dann ist das Zionistische gekommen.

TG: War das auch gemischt, Juden und Nicht-Juden?

PN: Ja, natürlich. Das Sozialistische war gemischt…das Sozialdemokratische war gemischt. Aber dann das Zionistische…ich war bei Blau-Weiß. Das war eine bürgerliche zionistische Jugendgemeinschaft, von Wien…sehr wichtig. Aber dann, als ich ungefähr zwölf oder dreizehn war, habe ich das übernommen zu dem Hashomer Hatzair Jugendbund. Das war ein sozialistischer Jugendbund, sehr links. Die meisten sozialistischen Kibbuzim sind Hashomer Hatzair, in Israel. Und der war erstens einmal nicht bürgerlich, sondern sozialistisch. Und zweitens war das sehr wichtig, dass man sich vorbereitet, aufs Land zu gehen nach Israel…Hachschara. Und die haben das so gemeint, im Sommer sollen wir aufs Land gehen und lernen, was man mit dem Boden macht. Der Rückgang…das jüdische Volk ist zum Boden…das war eine sehr wichtige Idee, und die Kibbuzim sind daraus gekommen. So sind wir später…die Jugendlichen, da waren ungefähr zehn oder zwölf Leute, und ich war der Führer von dem Bund der sozialistischen Zionisten. Und meine Schwester, wo sie aus Krems weggefahren ist, nach Israel gekommen ist, ist sie in ein Kibbuz gegangen. Das war selbstverständlich links.

 

1/00:15:33

 

TG: In welcher Zeit war das ungefähr? Das war in den späten [19]20er-Jahren?

PN: Ja, [19]28/[19]29.

TG: Wir haben vorher gesprochen, dass die Mischung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Kindern in diesen Jugendgruppen vorhanden war. Wie war überhaupt das Verhältnis in Krems, Nicht-Juden zu Juden?

PN: Einige Leute der Gemeinschaft waren freundlich. Die anderen waren nicht nicht-freundlich, aber isoliert. Die haben mit den Juden nichts zu tun gehabt, ohne antisemitisch zu sein. Und dann waren die, die immer gedacht haben, dass natürlich die Juden, die gehören ja nicht zu uns, das sind die Fremden. Und ich kann mich erinnern, als ich klein war, hat man mich gefragt, die anderen Kinder: „Ja, du bist ja Jude. Was hast du? Hast du ein Horn? Hast du da besondere Zeichen?“ Die haben dann von Zuhause gelernt, dass die Juden anders sind. Das hat man natürlich gefühlt. Aber meine Freunde waren nicht nur jüdische Freunde. Ich habe nicht-jüdische Freunde gehabt, mit denen ich sehr nahe war. Das heißt, die haben auch mich angenommen. Da war zwischen einer kleinen Gruppe…ich würde sagen in der Realschule in Krems, da waren ungefähr 30 Studenten. Ungefähr ein Drittel war offen, ob ich Jude war oder Nicht-Jude. Ein anderes Drittel hat nicht gewusst, was mit mir zu machen, und der dritte Teil, die waren gegen mich: „Du bist ein Jude. Wir wollen dich nicht.“ Die waren auch schon politisiert, so wie ich politisiert wurde…antisemitisch, in der Realschule. Und so waren die Lehrer. Krems war ja bekannt als eine bürgerliche Stadt, nicht als eine soziale Stadt wie Linz oder St. Pölten. Und das Leben war ruhig. Zum Beispiel wurde ich eingeladen, als Fünfzehnjähriger, im Kremser Symphonieorchester zu spielen. Ich war der einzige Junge, die anderen waren alle Musiker. Und ich war in der Schule. Aber der conductor, der Dirigent von Wien, ein junger Mensch, hat mich angenommen. Ich war nicht einmal so gut, aber er hat mich…die zweite Violine, gleich neben der Trommel gesetzt und hat mich angenommen. Später wurde es schwierig, mich zu behalten. Dann bin ich selber ausgetreten, als das Antisemitische mehr wurde. Wir haben gespielt für die Gemeinschaft, Beethoven und Bruckner und so fort. Und da bin ich dagesessen, das haben die Leute nicht gerngehabt. Es war eine Mischung, eine gewisse.

TG: Sie haben gesagt, dass einige der Familien ja schon lange in Krems gelebt haben.

PN: Ja, viele Generationen.

TG: Viele Generationen…und der Antisemitismus immer schon unterschwellig vorhanden war, eine Tradition hatte in Krems?

PN: Der katholische Antisemitismus war immer da. Die Juden haben den Jesus umgebracht oder verraten…und all diese oberflächlichen, religiösen Ideen, die waren immer da. Was ist ein Jude? Wer ist der Jude? Und so weiter…aber das war ein Unterschied zwischen dem katholischen Antisemitismus, wie mit dem Bürgermeister [Karl] Lueger in Wien, der sagte: „Wer Jude ist oder Nicht-Jude ist, ich bestimme das.“ [Lacht.] Und die Juden wurden getauft oder nicht getauft. Das war in Wien doch so…das war eine Sache. Als der Nationalsozialismus gekommen ist, das war eine andere Sache. Das war virulent. Das war gehasst. Man war nicht nur ein anderer, man war jemand, den man nicht wollte.

 

1/00:20:26

 

TG: Also war dieser katholische Antisemitismus etwas, das man akzeptiert hat als Jude, etwas, mit dem man leben konnte?

PN: Mit dem man gelebt hat, denn da waren viele Katholiken, zum Beispiel ein Lehrer hat mir, in der Realschule, ein Buch gegeben, wie man die…wie man bewähren kann, dass es doch einen Gott gibt. Er wollte, dass das, was er verstanden hat von der katholischen Seite, soll ich auch lesen. Das war nicht für mich, um ein Katholik zu werden. Er wollte das mit mir teilen. Und als Maturaarbeit hat er mir gesagt, ich soll über [Israel] Zangwill schreiben, den jüdischen Schriftsteller aus England. Das wollte er, dass ich tue. Und er war ein sehr religiöser Mensch, ein Lehrer in…was hat er unterrichtet…Französisch, glaube ich. Und da hat er gesagt: „Warum machst du das nicht? Das sollte dich interessieren.“ Das war ein Austausch…das war ein freundlicher Austausch. Da waren dann die anderen, wo ich gewusst habe, die mich hassen. Oder die, wie mein…ich habe davon geschrieben…wie mein Deutschlehrer, der gesagt hat, er kann mir nicht ein „Sehr gut“ geben, weil Deutsch doch nicht meine Muttersprache ist. Und ich habe mir gedacht, Deutsch ist nicht meine Muttersprache? Meine Mutter spricht nur deutsch, was ist meine Muttersprache, wenn es nicht Deutsch ist? Er sagte, er kann mir nicht ein „Sehr gut“ geben. Ich habe über Hamlet etwas geschrieben, und da sagte er: „Das kann ich ihm nicht geben. Er versteht doch Deutsch nicht.“ Das musste er tun. Als ich ihn später, nach vielen Jahren, gefragt habe: „Was hast du getan?“ Da hat er gesagt: „Die Nazis haben mir gesagt, ich muss mich so benehmen. Und ich wurde einen Abend geschlagen von den Leuten. Also habe ich es getan.“ Das war dann schon die Nazi influence, die soweit gegangen ist.

TG: In welchem Jahr war das ungefähr?

PN: Das war [19]28 oder [19]27.

TG: Also es war doch da auch schon virulent?

PN: Ja, von denen.

TG: Es war ja auch Krems die geheime Hauptstadt des illegalen Nationalsozialismus.

PN: Ja.

TG: Und das hat man sehr wohl gespürt?

PN: Natürlich, in der Schule.

TG: Ich hätte noch kurz eine Frage, die etwas zurückspringt. Krems in der Nachkriegszeit, nach dem Ersten Weltkrieg, haben Sie da Erinnerungen, wie das Leben war? In Wien war es ja sehr hart, an Lebensmittel zu kommen. Am Land war es etwas einfacher.

PN: Ich musste…ich kann mich erinnern, dass ich von Krems weg, sehr häufig, in die Dörfer gegangen bin, ungefähr Drei-Kilometer oder Fünf-Kilometer Wege, um Brot zu bekommen, um Milch zu bekommen. Ich kann mich noch erinnern, ich habe noch gegessen in einer Ausspeisung, wo die Amerikaner Essen geschickt haben, für die Kinder. Und da bin ich hingegangen, um mittagzuessen. Da hat man alle möglichen Sachen bekommen. Ich kann mich erinnern an Orangen, Bananen…das hat es überhaupt nicht gegeben…erst sehr viel später. Ich habe wirklich sehr viel…das war mir nicht so bewusst, aber es war sehr schwer. Besonders…nach dem Krieg hat es vielleicht zwei, drei, vier Jahre gedauert, bis der Aufbau genug da war. Dann sind die Bauern zu uns gekommen und haben gesagt: „Bitte kauft die Milch.“ Das hat sich dann geändert. Aber es hat ein paar Jahre gedauert. Und das war schwer.

 

1/00:25:04

 

TG: Wie hat sich das soziale Leben in Krems abgespielt? Gab es Arbeitslosigkeit?

PN: Es gab Arbeitslosigkeit. Da waren die Sozialdemokraten, da waren die Bürgerlichen, da war ein Theater, wo manchmal die Wiener gekommen sind und gespielt haben, da war das Symphonieorchester, da war eine Bibliothek, wo ich [Sigmund] Freud gefunden habe, wo ich immer hingegangen bin. Karl May habe ich gelesen, und Freud habe ich gelesen, und den [Fjodor] Dostojewski habe ich gefunden und so fort. Da war ein gewisses soziales Leben, wenn man es so wollte…für einige. Und ich war mit der Schule und mit den Sozialisten und dann mit dem Zionismus und dann mit dem marxism…ich war voll ideologisiert. Und wie ich dann nach Wien gekommen bin, ist das so weiter gegangen, mit Karl Kraus und mit der Fackel und mit der…der Internationalen, der [Victor] Adler und der [Otto] Bauer, die ganzen Wiener Geschichten. Das war sehr wichtig für mich. Wie weit geht man nach links? Wird man dann Kommunist? Aber Sozialdemokraten waren nicht gut genug, nicht kämpferisch genug…und das war das Leben dort. Und auch in Wien, mit…war sehr politisiert.

TG: Wie sehr hat man von Krems aus nach Wien geblickt, als Hauptstadt?

PN: Wien war für mich intellektuell sehr interessant, was dann an der Universität geschehen ist, in der Medizin auch, und der [Karl] Bühler in der Psychologie und [Alfred] Adler, den ich gehört habe, und so fort. Das war sehr interessant. Und ich habe da…die Rudolf Steiner Gesellschaft, das war auch sehr interessant für mich, diese ganzen philosophischen Ideen, die er gehabt hat. Ich habe überall herumgeguckt. Aber meine Stellung war links, politisch.

TG: In einem Ihrer Aufsätze haben Sie erwähnt: Wie kann einem Krems gefallen, wenn man in Wien gewesen ist? Das muss auch ein Deutschaufsatz gewesen sein, ich habe das irgendwo--

PN: --da war eine Burschenschaft.

TG: Nein, nein, Sie müssen in einem Deutschaufsatz geschrieben haben, wenn man Wien gesehen hat…Sie müssen auf einem Schulausflug in Wien gewesen sein und darüber einen Aufsatz in Krems geschrieben--

PN: --oh ja, das war so, mit dem Aufsatz: Ich war nicht in Wien. Ich habe einen Aufsatz geschrieben in Krems, dass ich als Jugendlicher nach Wien gekommen bin, und in Wien habe ich das alles gesehen und habe mir gedacht: „Was ist da los in Krems? Es ist so eine Kleinstadt. Das ist ja nicht gut genug.“ Und da habe ich--

TG: --aber Sie haben es nicht tatsächlich erlebt?

PN: Nein, das war nur ein Aufsatz.

TG: Fiktion.

PN: Da hat mich der Lehrer…nein, der Direktor der Schule hat gesagt, ich soll zu ihm ins Zimmer kommen. Er hat gesagt: „Was ist da los mit dir? Dein Lehrer hat gesagt, er kann diesen Aufsatz nicht annehmen, denn du bist davongelaufen, und du wollest Krems nicht haben, und du schimpfst über die Bürgerlichkeit von Krems. Das kannst du nicht tun!“ [Lacht.] Meinen Vater hat man angerufen und hat gesagt: „Kommen Sie doch. Was ist da los mit Ihrem Sohn?“ Weil ich gesagt habe, ich bin da…das war alles nur eine Fantasie.

TG: Aber woher haben Sie Ihre Fantasie geschöpft? Was haben Sie alles in diesen Aufsatz hineingepackt?

PN: Erst einmal alles, was ich gelesen habe. Ich habe so viel gelesen an Büchern und in der Zeitschrift und so. Das war für mich kein Problem. Über Hamlet zu schreiben war kein Problem. Ich habe gerne gelesen. So habe ich davon geredet, wie man sich befreit von der kremserischen Einstellung. [Lacht.] Die haben gedacht, dass das wirklich so geschehen ist. Und mein Vater hat gesagt: „Er war nicht dort.“ [Lacht.] Das haben sie nicht geglaubt. Das sagte der Professor sogar nachher noch. Der Professor Hörl: „Ja, du musst eine andere Arbeit schreiben. Ich kann die nicht annehmen.“ Das ist so spießbürgerlich gewesen. [Lacht.]

TG: Wie war Wien, als Sie dann tatsächlich das erste Mal nach Wien gekommen sind?

PN: Es war wunderbar für mich! Die Musik, das Symphonieorchester, als Klatsch in die Oper zu gehen, den Karl Kraus sich anzuhören, den Adler sich anzuhören, den Sozialisten. Den Karl Kraus zu sehen, wie er gespielt hat über viele Sachen und einen Monolog gegeben hat. Und andere Leute, Wiener, kennengelernt habe…ich kann mich erinnern, die haben gesagt: „Komm’ mit mir“, das sind sehr viel ältere Leute gewesen, „Ich zeige dir einen neuen Maler, den wir gefunden haben. Egon Schiele, den sollst du kennenlernen.“ Das war alles so offen. Es war wunderbar für mich.

TG: Sie haben in Wien begonnen, Medizin zu studieren. Wie kam es zu dem Entschluss, ein Medizinstudium zu machen?

PN: Die Leute haben mir immer gesagt, wie ich klein war, ich soll ein Rechtsanwalt werden. Aber ich wollte in die Psychologie gehen, und die einzige Möglichkeit, in die Psychologie zu gehen, war die Psychiatrie für mich. [Karl] Bühler, Psychologie als Psychologie, das habe ich nicht verstanden. So bin ich in die Medizin gegangen, um Psychiater zu werden.

TG: Und diese Idee hat sich aus Ihrer Auseinandersetzung--

PN: --gelesen.

TG: Bitte?

PN: Erstens aus dem Lesen, aber natürlich, meine eigenen Schwierigkeiten als Jugendlicher…

 

1/00:31:44

 

[Übergang/Schnitt.]

 

TG: Herr Neubauer, wir haben uns unterhalten, wie es zu dem Entschluss kam, Medizin, beziehungsweise weiter in die Psychiatrie zu gehen. Sie selber haben sich in Ihrer Kindheit als Außenseiter gesehen.

PN: Als Außenseiter gesehen in meiner eigenen Familie, als Außenseiter gesehen in der Gesellschaft…weil ich Freunde gehabt habe, habe ich doch immer gefunden, dass ich als Jude anders bin. Manche waren freundlich, das habe ich eh gesagt. Wir haben, weil wir religiös waren, keinen Weihnachtsbaum gehabt. Wir haben…ich habe immer gesehen…für mich ist es ja anders als für dich. Warum, habe ich nicht verstanden, aber so ist es. Weil wir religiös waren, war das einer der Gründe, warum ich gefühlt habe, dass ich nicht wie die anderen bin. Und auch wie sich die anderen benommen haben, das war nicht nur antisemitisch. Die Juden, die religiösen Juden, haben sich auch so benommen, dass sie gesagt haben zur ganzen Welt: „Ich bin anders.“ Nicht nur, weil das ein Ghetto war. Weil die Juden gesagt haben: „Wir müssen zusammenleben.“

TG: War auch in Krems--

PN: --ein Ghetto? Nein.

TG: Nein, aber war die jüdische Gemeinde auch räumlich getrennt--

PN: --ja, vollständig--

TG: --in einem gewissen Stadtteil?

PN: Nein, nein. Ursprünglich in Krems war eine Judenstraße. Das ist 200 oder 300 Jahre zurückgegangen. Da war eine Judenstraße und der Judenpark, aber zu meiner Zeit war das überhaupt nicht da.

TG: Also das war durchgemischt? Es gab keine örtlichen Trennungen?

PN: Ja.

TG: Sie haben gesagt, in Ihrer Familie haben Sie sich auch als Außenseiter gesehen. Können Sie da ein bisschen genauer drauf eingehen?

PN: Ich habe mehr als die anderen in meiner Familie…ich habe gefühlt, dass ich Interessen habe, intellektuelle Interessen, die nicht geteilt wurden von den anderen. Mein Bruder, der auch nach Wien gegangen ist und maturiert hat, er war politisch so aktiv, dass das sein Hauptgebiet war. Er würde gesagt haben: „Du bist zu frei, um einen guten Charakter zu haben. Du bist so viel an so vielen Sachen interessiert, das kannst du nicht tun. Man muss eine…Stellung haben, von der aus man spricht. Aber du bist offen, du guckst dir alles an.“ [Lacht.]

TG: Also er war auf eine Ideologie fokussiert im Gegensatz zu Ihnen.

PN: Ganz fixiert…ich war offen. Wenn ich sogar teilgenommen habe, war ich doch noch offen.

TG: Ihr Bruder war älter als Sie?

PN: Ja.

 

1/00:35:08

 

TG: Können Sie etwas über Ihre Jahre in Wien erzählen? Wann sind Sie nach Wien gegangen?

PN: Wien in der Medizin war antisemitisch. Da waren sehr getrennte…Anatomie, da war der [Julius] Tandler an der einen Seite, der jüdische Lehrer, der international berühmt gewesen ist, und dann war der andere. Die Juden sind dahin gegangen, die anderen sind dorthin gegangen, und die Nicht-Juden, sehr häufig, haben die Juden verprügelt. Die Polizei ist gekommen und haben sie auch verprügelt. Und da war schon der Zeitgeist des Antisemitismus, in der Medizin.

TG: Das war in den frühen [19]30er-Jahren?

PN: Ja.

TG: Können Sie sich erinnern, wo in Wien Sie damals gewohnt haben?

PN: Ja, ich habe in einem Studentenheim gewohnt der Stadtgemeinde, in der Billrothstraße. Das war offen für sozialdemokratische Studenten vom Land. Und da habe ich ein Zimmer gehabt. Das war sehr, sehr…frei, mit einer Küche für alle, und das war ganz nett, und da habe ich zuerst gelebt, bis es zum Aufstand gekommen ist, in Wien. Und im Aufstand war--

TG: --wir sprechen jetzt von 1934?

PN: Ja. In dem Aufstand, wo ich ein bisschen betätigt war…dann wurde das Heim zugesperrt, viele der Leute sind weggelaufen, in die Tschechoslowakei, manche sogar nach Russland…von den Studenten. Und ich natürlich habe dann kein Heim gehabt, und dann habe ich dann Zimmer gemietet, im 19. Bezirk und in der Umgebung von der Universität.

TG: Im 9.?

PN: Ja.

TG: Wie politisch aktiv waren Sie? Wie sehr sind Sie dann in die aufständischen Entwicklungen einbezogen gewesen?

PN: Mein Bruder war sehr aktiv. Er ist rumgelaufen von Stadt zu Stadt und hat die Arbeiter aufgerufen zu kämpfen. Er war achtzehn, neunzehn. Er hat 500, 1.000 Leuten gesagt, ihr müsst da gehen, und da hat man ihn eingesperrt. Und deswegen bin ich weggegangen. Nicht nur hat man ihn eingesperrt in Krems für zwei Wochen, glaube ich, weil er politisch so aktiv war, aber die Universität hat gesagt: „Wenn du im Gefängnis warst, dann kannst du nicht auf der Medizin sein. Dann wirst du für ein ganzes Jahr gesperrt werden. Dann können wir dich nicht annehmen.“ Wie das legal war, verstehe ich nicht. Da habe ich mir dann gesagt: „Wenn das los ist, dann gehe ich.“ Das hat mich gerettet.

TG: Wie sehr haben Ihre Eltern Ihre Entwicklungen für gut empfunden? Wie war ihre Stellung zu Ihnen?

PN: Meine Eltern waren…haben uns immer den Eindruck gegeben: „Was immer ihr wollt, macht ihr das. Wir sagen dir nicht, was richtig ist und nicht richtig ist. Du willst studieren? Studiere. Du willst was anderes tun? Mach’ das so. Du möchtest weggehen? Dann geh’ weg. Haben wir dir vertraut? Mach’ es so.“ Sie haben uns nicht beeinflusst. Natürlich waren sie froh, dass ich Arzt geworden bin und ein Diplom bekommen habe. Da waren sie sehr froh darüber, aber sie haben nicht gesagt…mir gezeigt, was sie für mich wollen. Das war ganz offen. So ist meine Schwester als ganz junges Mädchen nach Palestine gegangen, mit fünfzehn Jahren. Heute schickt man junge…Palestine war damals gar nichts. Und wenn ich gesagt habe, ich gehe in die Schweiz, da haben sie gesagt: „Ja, dann gehst du in die Schweiz.“ Eine Tante von Wien ist nach Argentinien gegangen. Die Juden versuchten, sich irgendwo zu finden…einen Platz zu finden.

TG: Ihr Entschluss stand damit fest, Wien zu verlassen, als man Ihren Bruder von der Universität ausgeschlossen hat. Können Sie sich noch an die Ermordung von [Engelbert] Dollfuß erinnern, die Erschießung von Dollfuß?

PN: Ja, natürlich. Ich war ja politisch orientiert, wenn ich auch nicht politisch aktiv war. In dem Heim, in dem ich war, als der…nicht der Anschluss gekommen ist…wenn der Aufstand gekommen ist mit [Ernst Rüdiger] Starhemberg und so fort, da hat man die Studenten zusammengerufen und gesagt: „Wir müssen kämpfen.“ Das war ein sozialdemokratisches Heim.

 

1/00:40:21

 

Und ich…ich habe gesagt: „Was heißt kämpfen?“ – „Komm’ mit mir, du wirst es sehen.“ Und da bin ich mitgegangen, da hat man mich in einen Raum gebracht, mir ein Gewehr gegeben und hat gesagt: „Jetzt gehen wir da kämpfen.“ Da habe ich gesagt: „Ich habe noch nie geschossen.“ – „Ich werde es dir zeigen.“ [Lacht.] So war das. Für mich war das so. Die anderen haben Unterricht gehabt. Aber ich war da dabei für eine Nacht oder zwei, und wir haben rumgeschossen. Einige Leute wurden von der Polizei angegriffen und waren tot, von den Studenten. Das war in Heiligenstadt und das Ganze…mein Bruder war natürlich sehr aktiv die ganze Woche.

TG: Also Karl-Marx-Hof?

PN: Ja.

TG: Und Sie haben da nicht wirklich aus Überzeugung mitgemacht?

PN: Dass ich gekämpft, war mehr als…das ist so komisch im Leben. Da war ein Student, der sehr arm war. Ich habe immer ein bisschen mehr Geld gehabt als er, weil ich Unterricht gegeben habe, den anderen Studenten. Ich habe mich selber unterhalten und habe Unterricht gegeben. Und da habe ich ihm immer Geld gegeben…habe ihm geholfen. Und als es dann endlich gekommen ist zum General…wie heißt das…zum general alarm [meint: Generalstreik.] für die…all of Vienna was closed. Da sagt er zu mir: „Du, komm’ jetzt mit mir.“ Er wollte mir zeigen, dass er freundlich ist und dass er als Schutzführer des sozialdemokratischen Dings jetzt mir zeigt, wie gern er mich hat. So bin ich reingekommen. [Lacht.] Sonst wäre ich dort nicht gewesen, zum Kämpfen. Politisch ideologisch, ja, da war Marxismus, das habe ich alles studiert…[Georg Wilhelm Friedrich] Hegel und Feuermann [meint: Ludwig Feuerbach], und all die Sachen, die dazugehören zum Marxismus. Aber politisch aktiv, das war nichts für mich. Ich bin da so reingekommen. Ich habe ja gewusst, was er sagen will, zu mir: „Du, ich möchte dir jetzt zeigen, dass ich dich anerkenne. Komm’ mit mir.“ Da konnte ich doch nicht Nein sagen. [Lacht.]

TG: Sie sind dann [19]34 in die Schweiz gegangen zum Studieren. War das damals problemlos?

PN: Nein, in der Schweiz hat man die jüdischen Studenten angenommen, entweder von Amerika…da waren sehr viele jüdische Studenten aus Amerika in der Schweiz, die nicht genügend…akademische Qualitäten gehabt haben, um aufgenommen zu werden. Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt, von der Wiener Universität an die Berner Universität umzusteigen. Die haben mich dann angenommen. Später wollten die Schweizer die Flüchtlinge nicht, nach dem Anschluss.

TG: Wie sehr haben Sie die Entwicklungen in Deutschland mitverfolgt, als Hitler [19]33 an die Macht gekommen ist?

PN: Als Österreich--

TG: --nein, als Hitler in Deutschland 1933 Reichskanzler geworden ist. Hat das in Ihnen etwas bewegt, nachdem Sie gesagt haben, Sie waren ein politisch interessierter Mensch?

PN: Selbstverständlich, das war alles für mich sehr wichtig…das ganze politische Leben. Ich war sehr links-ideologisch. Das war alles sehr wichtig für mich. Ich habe auch Freunde gehabt, nicht-jüdische Freunde, [unklar]. Der Vater war der Fahrer für den Kaiser, und die waren…meine Freunde waren die Freunde vom Rainer Maria Rilke, von Käthe Kollwitz und so fort, und die habe ich besucht in Berlin und am Land, gerade vor dem Anschluss und nach dem Anschluss. So habe ich dann ein Gefühl gehabt, was da los ist.

TG: Aber war Ihnen nach [19]33 schon bewusst, was mit der jüdischen Bevölkerung passieren könnte?

PN: Nein, niemand hat das wirklich gedacht, dass das so weit gehen würde.

 

1/00:45:18

 

Das ist später wirklich rausgekommen. Dass er antisemitisch ist, dass die Kristallnacht da war, dass die Juden weggenommen wurden, das war alles bekannt…dass da die Schwierigkeiten da waren für die Juden. Und, dass man natürlich versucht hat wegzugehen, wo immer man gehen konnte, nach China oder nach Indien…das war bekannt.

TG: Sein Buch Mein Kampf haben Sie aber damals nicht gelesen?

PN: Natürlich.

TG: Haben Sie?

PN: Ja.

TG: Und Sie haben aber…ich meine, daraus geht ja schon sehr klar--

PN: --man hat vor dem Ding…die Juden, vorher, haben ein bisschen gelacht und gesagt, das ist ein blöder Kerl, guck dir das an, was der sich da vorstellt. Bis man gesehen hat, wie dieses Mein Kampf großen Einfluss genommen hat mit dem Reichstag…wie er die Macht übernommen hat. Man sollte weggehen. Und wir als Zionisten haben natürlich immer gesagt: „Geh’ nach Israel, geh’ nach Palestine.“ Sogar früher haben wir das so gesagt, [Theodor] Herzl und die anderen. Ich bin zu zionistischen Kongressen gegangen, nach Prag oder in die Schweiz, als Jugendlicher. Die wirkliche Zerstörung, sechs Millionen Juden, das war nicht bewusst. Das hat man gefürchtet, aber es war nicht bewusst.

TG: Ihr Entschluss, in die Schweiz zu gehen, war das von vorneherein klar, dass es Bern sein wird, oder gab es noch andere--

PN: --ganz zufällig. Ich bin zuerst nach Italien gegangen, von Wien nach Italien, nach Pisa. Und dann habe ich mir die Universität angesehen und habe mit Studenten gesprochen in Pisa. Und einer hat mir erzählt, dass er…da sagte er: „Ja, es ist das Leben hier sehr schön. Vor den Vorlesungen gehen wir ins whorehouse. Jeder hat ein Abonnement, und wir können jeden Morgen gehen. Aber am Donnerstag können wir nicht kommen, weil die Professoren dort sind.“ [Lacht.] Ich war Sozialist, und ich war sehr moralisch, da habe ich gesagt: „Das ist nicht für mich, diese Stadt.“ Und ich bin weggefahren und bin in die Schweiz gefahren. Und der Zug war in Bern, da habe ich gesagt: „Ich gehe nach Bern.“ Und dann bin zur Universität gekommen und wurde angenommen, und das war ein ganz anderes Leben dort. Und--

TG: --es gab ja auch gewisse Leitfiguren an dieser Universität?

PN: Ja, Figuren, jüdische Professoren, und man hat deutsch gesprochen, im Gegensatz zu Italien. So bin ich dortgeblieben. Wenn der Zug nach Zürich gegangen wäre, wäre ich wahrscheinlich in Zürich geblieben.

TG: Wie stark war dann Ihr Bezug noch zu Österreich? Sind Sie in den Sommerferien oder--

PN: --überhaupt nicht.

TG: In dem Moment, wo Sie Ihren Studienort gewechselt haben, haben Sie auch Ihre Verbindungen zu Österreich abgebrochen?

PN: Mit Ausnahme der politischen Interessen…eine Sehnsucht nach der Heimat war nicht da. Das ist später ein bisschen gekommen. Später, wenn…das österreichische, das Wiener Kulturleben…ich habe später verstanden, wie bereichernd das war, wie interessant das war zu der Zeit noch, wie viel da war, in der Medizin, auf der Universität, in der Kultur, in den Zeichnungen, in allem, in der Musik…unglaublich. Ich habe das noch gesehen, le-finde-siècle-Einfluss. Was immer man getan hat, in dieser kleinen Stadt von einer Million Einwohner, es war unglaublich. Trotz der politischen Sachen, die waren, habe ich verstanden, wie interessant das war und sogar wie Österreich…österreichisch-ungarisches empire hat in den letzten Jahrhunderten schon zusammengenommen viele Länder als eine Mischung, eine Zusammengehörigkeit. Das hat es nirgendwo anders gegeben. Es waren ja nicht nur die Deutschen. Das waren die Tschechen, und da waren die Italiener, und da waren die Polen und…die Zukunft war ein bisschen zu zeitlich im österreichischen empire. Die haben alle zusammengelebt. Wien war…da waren so viele Leute. Wer war schon ein Wiener? [Lacht.] Die Wiener waren Tschechen oder Ungarn oder…all diese Leute waren da. Das war doch eigentlich ein Versuch, ein österreichisch-ungarischer Versuch, eine Mehrheit der Länder zusammenzubringen, was eine gewisse originelle politische Möglichkeit war. Da war ja nichts anderes. Die anderen waren national.

 

1/00:51:34

 

TG: Wie war Ihre beziehungsweise die Einstellung Ihrer Eltern bezüglich der Monarchie?

PN: Den Kaiser muss man annehmen und ehren. [Lacht.]

TG: Also man stellt sie nicht infrage?

PN: Nein, man stellt sie nicht infrage. [Lacht.] Wir haben das angefangen, aus sozialistischen Gründen. Wer braucht das? Wer braucht einen Kaiser? Das Volk soll es sein, die Arbeiter sollen es machen. Aber meine Eltern haben das nicht so…waren nicht kritisch.

TG: Ihr Bruder ist 1934 nach Palästina, nachdem er von der Universität ausgeschlossen war. Ihre Schwester war schon dort. Haben Sie da irgendwie Beziehungen aufrechterhalten können zu Ihren Geschwistern?

PN: Ja, wir waren sehr nahe. Ich bin sehr häufig nach Palästina gegangen, wenn ich Zeit gehabt habe, im Sommer, um dort einige Wochen zu bleiben. Und ich habe Freunde gehabt, mit denen ich gelebt habe, und die habe ich regelmäßig besucht. Ich war sehr nahe mit meinem Bruder und der Schwester.

TG: Aber es war für Sie außer Frage, dem Zionismus zu folgen und--

PN: --doch, eine zionistische Lösung für sich zu haben, war immer da, aber ich war in der Schweiz, man konnte nirgends hingehen, und natürlich konnte man nicht nach Palästina fahren, zu der Zeit. Ich wollte natürlich fertig studieren. Ich hätte aufgeben können mein Medizinstudium und in einen Kibbuz gehen, aber das wollte ich nicht. Mein Bruder hat es getan. Und dann nachher, nachdem ich studiert habe und die weitere Ausbildung kam, war es unmöglich nach Palästina zu gehen. Die einzige Möglichkeit für mich war Amerika. Nicht, weil ich Amerika wollte.

TG: Wieso war es unmöglich nach Palästina zu gehen?

PN: Ja, im Krieg. Ich bin [19]41 hier angekommen, das war Pearl Harbor. Der Krieg war schon überall.

TG: Ihre Mutter ist, glaube ich, 1936 gestorben--

PN: --ja--

TG: --eigentlich relativ…oder sehr jung. Krankheitsbedingt?

PN: Sie hat einen…how could I saycerebral hemorrhage, eine Blutung im Gehirn. Sie ist jung gestorben. Was die wirkliche Ursache war, ob das ein aneurysm war…man hat ja keine Autopsie gemacht, aber das weiß ich nicht. Sie ist ganz plötzlich gestorben.

TG: Ihr Vater ist aber weiterhin in Krems geblieben, als Lehrer und Kantor?

PN: Er ist in Krems geblieben, bis man ihm gesagt hat: „Morgen wirst du verhaftet.“ Sogar der Polizeichef hat ihm das gesagt. Da sehen Sie wieder die Mischung. Der hat gesagt: „Morgen werden die kommen, die Polizei.“ Da ist er geflohen, ist weggelaufen, in die Tschechoslowakei und von der Tschechoslowakei nach Saarbrücken, von Saarbrücken nach Nice, und dann endlich ist er, über die Berge nach Spanien gekommen. Er ist immer gelaufen.

 

1/00:55:37

 

TG: [19]38, wie sehr haben Sie den Anschluss von der Schweiz aus mitverfolgen können, die Entwicklungen in Österreich?

PN: Ja.

TG: Wie sehr?

PN: Es war entsetzlich, natürlich, erstens, dass die Nazis gekommen sind, und zweitens, was ich gesehen und gehört habe. Und was besonders aufregend für mich war, ist, mit welcher Begeisterung die Österreicher ihn angenommen haben. Erstens waren sie Österreicher, und zweitens waren sie Katholiken, und er war anti-religiös. Und drittens war Wien doch für mich eine sozialdemokratische Stadt. Wie kommt das? Guck’ dir an, wie all diese Leute mit Begeisterung da waren. Das war nicht nur Hitler, das waren die Österreicher, die plötzlich nicht da waren, und die Österreicher, wo ich geglaubt habe, dass es geben würde.

TG: War das dann ein Gefühl: Sie sind ja nicht plötzlich gekommen, sondern sie waren ja schon immer da, die Österreicher, die zugejubelt haben. Also auch schon zu der Zeit, als Sie in Wien gelebt haben.

PN: Ja, ich habe immer gewusst, was ich von Krems aus erfahren hatte, dass die Bevölkerung sich in verschiedene politische, soziale und menschliche Seiten einteilt. Wien war natürlich für mich, am Anfang, eine sozialistische Stadt. Es war eine sozialdemokratische Stadt, trotz Antisemitismus auf der Universität und so fort. Dass es so zusammengebrochen ist, wie Hitler gekommen ist, das war für mich so entsetzlich.

TG: Wie sehr ist es in der Schweizer Bevölkerung wahrgenommen worden, der Anschluss Österreichs?

PN: Die Schweizer haben sich politisch und emotional isoliert: „Wir sind Schweizer. Da geht es los in Europa. Wir haben damit nichts zu tun.“

TG: Also sie haben auf ihrem neutralen Status--

PN: --ja, das Neutrale ist…ja. Später, [19]41, bevor ich weggefahren bin, wurde ein Teil der deutschen Schweizer ein bisschen mehr Nazi. Die haben nicht gewusst, wie das geht, aber vielleicht hat er doch recht. Nicht in der französischen oder in der italienischen Schweiz, aber da hat man das erste Mal gefühlt, dass einige Schweizer Nazis sein könnten…politisch.

TG: Es haben ja einige Österreicher versucht, in die Schweiz zu flüchten.

PN: Und sie konnten nicht rein.

TG: Die konnten nicht rein. Wie sehr ist damit in der Öffentlichkeit umgegangen worden?

PN: Das wurde überhaupt nicht besprochen. Das wurde nie besprochen. Ich zum Beispiel…das ist das Bürokratische von der Schweiz…ich war Ausländer, aber ich habe, nachdem ich das Doktorat bekommen habe, hatte ich eine Stelle bekommen. Das war eine Ausnahme, dass ein Ausländer eine Stelle bekommt im Universitätsspital, als Assistent sozusagen. Und dann hat man mich gefragt, ob ich die ausländischen Studenten untersuchen werde, ob sie körperlich fähig sind, in ein Lager zu gehen. Das waren alles meine Freunde. Natürlich habe ich gefunden, dass alle diese Freunde alle möglichen Schwierigkeiten gehabt haben, um nicht in ein Lager zu gehen, in der Schweiz. Bis ich einen Brief bekommen habe, in dem mich die Stadt von Bern fragt: „Herr Dr. Neubauer, wollen Sie den Neubauer untersuchen, ob er fähig ist, in ein Lager zu gehen?“ Da habe ich gesagt: „Das kann ich nicht. Ich kann mich nicht selber untersuchen.“ [Lacht.] Dann haben sie es aufgegeben. Aber da sehen Sie diese eigenartige Sache. Man fragt mich als Ausländer, das zu tun. Und da war schon die Idee eines Lagers da, sogar für die Flüchtlinge, die schon in der Schweiz waren.

TG: Ist das realisiert worden?

PN: Natürlich, ja. Und man wollte die Flüchtlinge nicht in der Schweiz haben. Die hat man ausgesperrt. Da ist ja jetzt auch in der Schweiz eine Möglichkeit, dass die Juden, die nicht in die Schweiz erlaubt wurden, nach Reparation fragen können…die, die man nicht reingelassen hat.

 

1/01:01:08

 

Aber trotzdem, die Schweizer haben mich vollkommen angenommen, haben mir eine Stellung gegeben, haben mir eine Ausbildung gegeben, haben mich als Arzt weiter angestellt, und ich hätte dort Direktor einer Anstalt werden können, als 25-Jähriger. Die waren sehr nett zu mir. Es war eine Ausnahme, denn gewöhnlich hat man den Ausländern nicht die Fähigkeit gegeben, zu arbeiten, aber ich habe es gehabt.

TG: Wie sehr war da Ihr Bezug zur Tradition und Religiosität? War das vorhanden?

PN: Überhaupt nicht. Ich habe natürlich eine…ich habe mit der jüdischen Gemeinschaft in Bern einen Zusammenhang gehabt, weil ich sofort, wie ich dort, einen jüdischen Studentenverein gegründet habe. Und die jüdischen Studenten aus den verschiedenen Disziplinen sind hereingekommen.

TG: Woher kam die Ambition?

PN: Das war meine politische Aktivität. Ich war Zionist, Sozialist…die Juden sollen zusammenkommen. Das war ganz interessant, für drei, vier Jahre.

TG: Aber es hat sich mehr mit einer ideologischen Auseinandersetzung--

PN: --und nicht politisch.

TG: Ja.

PN: Ideologisch.

Ende von Teil 1.

 

Teil 2

TG: Das ist Tape zwei eines Austrian Heritage Collection Interviews, geführt mit Peter Neubauer, geleitet von Thomas Geisler, am 28. Oktober 1999 in New York City. Herr Dr. Neubauer, wir sind im Jahr 1939 stehengeblieben. Sie waren zu der Zeit in der Schweiz. Ein Großteil Ihrer Familie ist nach…nein, Ihr Bruder und Ihre Schwester sind mittlerweile nach Palästina ausgewandert, Ihr Vater noch auf der Flucht. Wie haben Sie den Kriegsausbruch erlebt?

PN: Ich kann mich daran nicht genau erinnern, das heißt, ich weiß nicht, ob ich eine ganz besondere Reaktion gehabt habe. Ich war mit dem Anschluss vorher, mit dem Anschluss an Sudetendeutschland [meint: Anschluss des Sudetengebiets an Deutschland.], mit dem Anschluss an das Saargebiet…das alles war ja schon da, um zu zeigen – für mich zumindest –, dass der Krieg schon da war. Als der Krieg dann ausgebrochen ist, war das nicht ein besonderes Trauma, ein besonderes Erlebnis. Es war im Zusammenhang mit all dem anderen.

TG: Das heißt, für Sie hat die Entwicklung, die sich im Deutschen Reich gezeigt hat, die Expansion…war für Sie ersichtlich, wie sich das entwickeln wird?

PN: Ja, weil ich sozialistisch war und natürlich gesehen habe, wie der Hitler, wie die Nazis das ganze Land übernommen haben…die Kommunistische Partei, die sozialistischen Parteien, die Christlichsozialen, die Sozialdemokraten, alle sind verschwunden. Für mich war das ja schon der Krieg. Und deswegen, was er dann weiter getan hat, Hitler oder die deutsche Regierung, war für mich nur eine weitere Ausbildung von dem, was schon geschehen war.

TG: Man hat also Europa quasi schon aufgegeben?

PN: Ja, natürlich. Nicht aufgegeben…ich habe natürlich gehofft, dass die Franzosen und die Engländer sofort stärker sein würden, ihn zu bekämpfen und nicht genauso zu kollabieren. Und, dass Hitler die Möglichkeit gehabt hat, eine Wehrmacht zu gründen, die so stark war, dass er da einfach alles übernommen hat und dann auch noch nach Russland gegangen ist…

TG: Hatten Sie zu der Zeit noch Kontakte nach Österreich?

PN: Da war niemand dort.

TG: Also Familie ohnehin nicht…Freunde, zu denen gab es keine Kontakte?

PN: Nein.

TG: Sie waren ja in Ihrer Jugendzeit auch politisch aktiv. Es gab auch dahin keine weiteren Kontakte?

PN: Nein, nicht zu denen, die links waren. Das war ja nicht möglich, das war gefährlich. Und ich war ja dann auch in der Schweiz politisch aktiv…nicht sozialistisch, aber zionistisch.

TG: Hat man versucht, Sie von Österreich aus zu kontaktieren?

PN: Nein.

TG: Wann haben Sie den Entschluss gefasst, von der Schweiz in die USA zu emigrieren?

PN: Die ganze Zeit wollte ich weg. In der Schweiz konnte man nicht bleiben, und ich wollte nicht bleiben. Ich habe einen Antrag gehabt, dort zu bleiben und eine sehr gute Stelle zu bekommen in einem Geisteskrankheit-Spital in einem der Kantone, Kanton Graubünden…mit jemandem, der auch gearbeitet hat, wo ich war, in Bern. Und der ist Direktor geworden und hat gesagt, ich soll mit ihm zusammen kommen, um die zu leiten. Ich war damals 26, 27. Es war eine wunderbare Art, mich hinzusetzen, aber die Schweiz hat für mich nichts bedeutet – nicht politisch, noch als ein Land. Erstens war ich da schon zionistisch, und ich wollte nach Palästina gehen, konnte aber nicht. Der Krieg hat es nicht erlaubt. Und ich wollte mich nicht dort festsetzen in der Schweiz. Das war für mich…besonders ganz draußen am Land, das war für mich nicht die Umgebung, die mich interessiert hat. So habe ich natürlich dann angefangen, einen Versuch zu machen, in die…nach Amerika zu kommen.

 

2/00:05:38

 

Und das war auch ziemlich schwierig, denn nicht die amerikanische Regierung, aber die Ambassadeure und die Konsulate, die amerikanischen, in der Schweiz und auch sonst überall, wollten doch nicht, dass die Juden nach Amerika kommen. Die waren isoliert, und die waren anti-jüdisch. So hatte ich eine Schwierigkeit nach der anderen gehabt, von denen ein Visum zu bekommen. Entweder habe ich zu viel Geld bekommen von jemandem, der gesagt hat, er wird für mich einstehen, ein Amerikaner, oder sie haben gesagt, es ist zu wenig Geld, oder sie haben gesagt, es ist in der Mitte. Und es sind Monate und Jahre vergangen, nur bis ich endlich einmal gesagt habe zu dem Ambassadeur: „Sie können das nicht tun! Ich werde dem Kongress das zeigen, was Sie hier tun.“ Am nächsten Tag habe ich das Visum bekommen.

TG: Um was für einen Kongress hat es sich gehandelt?

PN: Den amerikanischen Kongress. – „Ich werde schreiben und in Amerika erzählen, was Sie hier tun.“ Eineinhalb Jahre hat man mir gesagt: „Naja, dann müssen Sie weiter einreichen. Dann müssen Sie neue Möglichkeiten finden“, dass jemand garantiert, dass ich nicht im Land hier arm sein werde und unterhalten werden muss. Die wollten das nicht. Und dann war es auch sehr schwierig für mich, nach Portugal zu kommen, denn ich musste von der Schweiz über Südfrankreich, von Südfrankreich nach Spanien und von Spanien nach Portugal. Da brauchte ich ein Visum. Wenn ich das Visum haben wollte von…wenn ich das Visum für Südfrankreich bekommen habe, das unter Vichy war, hat das ein paar Monate gedauert. Dann habe ich angerufen für das spanische, die haben gesagt: „Ich werde dir das spanische nicht geben, wenn du nicht das portugiesische hast.“ Wenn ich das portugiesische dann bekommen habe, ist das französische abgelaufen. Wenn das französische abgelaufen ist, ist das spanische abgelaufen. Denn all diese drei Länder konnte ich nicht zusammen bekommen. Als ich endlich einmal weggefahren bin, durch diese Länder hindurch, hat man mich in Spanien irgendwo verfolgt. Da hat man mir erzählt, dass die Nazis gekommen sind und hinter mir her sind und einem Freund, den ich dort gehabt habe. Und ich war der einzige in einem Wagen, im Zug von der Schweiz nach Portugal. Ein Zug…mein Wagen war zugesperrt. Das heißt, den konnte niemand öffnen. Niemand in Südfrankreich sollte die Möglichkeit haben, uns rauszunehmen.

TG: Oder einzusteigen.

PN: Oder einzusteigen. Ich war der einzige Jude. Die anderen waren Juden, die Katholiken geworden sind und daher einen Pass vom Papst gehabt haben. Da war ich mit dem Herrn Goldstein und mit dem [unklar], das sind alle Juden gewesen. Sie haben gesagt: „Nein, wir sind Katholiken.“ [Lacht.] Alle anderen, 50 Leute. Und dann sind wir alle da durchgefahren. Und es war auch entsetzlich, diese ganze Fahrt, wie diese ganze Zeit. Jeder wollte Geld bekommen. Man hat unseren Zug von Spanien nach Portugal geschickt und die haben gesagt: „Das kostet noch einmal zehn Dollar.“ In Portugal haben sie gesagt: „Nein, Sie müssen nochmal zurückgehen.“ Dann haben die Spanier zehn Dollar verlangt. Das hat man ein paarmal gemacht, um noch Geld an der Grenze zu bekommen. Und das war dann immer so, bis ich endlich dann einmal in Lissabon war, ohne ein Visum gehabt zu haben, das wirklich noch richtig war, weil die Zeit abgelaufen ist. Und ich bin doch gegangen, man hätte mich sonst rausgeworfen, wenn man das gesehen hätte, dass ich das nicht hatte. Dann wäre ich nicht reingekommen. Und dann habe ich in Lissabon für zwei oder drei Monate warten müssen, um endlich einmal einen Platz zu bekommen. Das war [19]41…um nach Amerika zu kommen.

 

2/00:10:10

 

TG: Das heißt, Sie haben aus Amerika kein Affidavit gehabt? Also jemanden, der Ihnen ein Affidavit ausgestellt hat?

PN: Drei Affidavits habe ich gehabt. Ein Affidavit war zu viel Geld, das andere war zu wenig Geld, und das andere war mittel, und da haben die gesagt, das glauben sie nicht. [Lacht.] Sie haben es einfach nicht angenommen.

TG: Wie gibt es das, dass man zu viel Geld hat?

PN: „Der hat Ihnen so viel Geld angegeben, der hat eine Schifffahrtsgesellschaft. Ich glaube nicht, dass der Mann das wirklich so meint. Der tut nur so.“

TG: Wie haben Sie Kontakt zu diesen Personen in Amerika aufgenommen?

PN: Von amerikanischen Freunden.

TG: Sie hatten bereits Freunde in--

PN: --und andere Studenten, die bereits hierhergekommen sind, und Leute aus Deutschland, die auch in der Schweiz waren, die dann schon in Amerika waren.

TG: War Ihr ursprünglicher Plan, nach Amerika zu gehen, auch dort zu bleiben oder von dort aus nach Palästina?

PN: Das habe ich nicht gewusst. [19]41 habe ich das nicht gewusst…endlich einmal einen Platz zu finden, wo ich bleiben kann und arbeiten kann. Und man hat mich…[19]41, das war vor Pearl Harbor, habe ich natürlich sofort eine Stelle hier bekommen, im Spital, eine Assistentenstelle. Und da war keine andere Universität, und da waren keine Schwierigkeiten, weil ich ja auch in der Schweiz schon eine Universitätsstelle gehabt habe.

TG: Mussten Sie hier speziell nochmal eine Prüfung ablegen?

PN: Natürlich, die ganze medizinische Prüfung musste ich machen. Wie ich von Wien weg bin, musste ich die Prüfung in Bern machen, und von Bern musste ich natürlich hier die Prüfung machen. Das war aber nicht schwer.

TG: Das heißt, Sie sind damals von Portugal aus nach Amerika mit einer--

PN: --mit einem Visum.

TG: Mit einem Visum und mit zahlreichen--

PN: --Affidavits--

TG: --jüdischen Emigranten gereist?

PN: Ich weiß nicht, ob die Leute, die mir das Affidavit gegeben haben, ob die Juden waren. Die wollten einfach Flüchtlingen helfen. Wahrscheinlich waren sie Juden, aber das weiß ich nicht. Es war nicht durch eine jüdische Gesellschaft.

TG: Haben Sie noch eine Erinnerung, wie die Überfahrt von Lissabon nach New York war?

PN: Ja, wo jetzt in der…die Serpa Pinto war das Schiff, das war ursprünglich ein jugoslawisches Schiff, Calica Maria, das Königin Maria [meint: die Princesa Olga, die Prinzessin Olga.] geheißen hat. Wo sonst die Waren waren, die…Objekte waren, die man da versteckt im Schiff, da waren dann die Menschen. Da war ich, da unten mit Hunderten von Leuten, einfach auf einer Platte geschlafen. Aber das macht ja gar nichts. Das Einzige, was ein bisschen witzig und interessant war, wir sind nach Bermuda gekommen, und alle Schiffe zu dieser Zeit mussten in Bermuda bleiben und wurden untersucht. Und jeder wurde untersucht, und ich wurde auch untersucht, und in meinem Koffer fanden sie mein Thema für das Doktorat. Und ich habe Studien gemacht über die freien Kolonien, das heißt die Kolonien, wo die Menschen nicht mehr in…die Geisteskranken…nicht mehr im Spital sind, aber auch nicht so gesund sind, um in die Stadt zurückzugehen oder ins Dorf zurückzugehen. Da gab es Zwischenstationen, wo sie gelebt haben. Und ich habe die untersucht, wie das geht und so fort. Und ich habe das genannt: „Die freien Kolonien“. Als die Engländer gesehen haben, dass ich in meinem Koffer all diese Arbeiten habe mit „Die freien Kolonien“, haben sie gedacht, dass ich ein anti-imperialistischer Spion oder Agitator war. [Lacht.] Und die wollten, dass…ich musste das übersetzen, damit sie sehen, dass es um Geisteskranke ging. [Lacht.] Und die anderen Leute im Schiff waren wütend auf mich, weil das Boot noch länger bleiben musste, um das zu sehen. Aber dann bin ich hier angekommen und habe sofort eine Stelle bekommen.

 

2/00:15:04

 

TG: Das heißt, man hat Sie hier…Freunde haben Sie hier erwartet?

PN: Nein, mein Professor in der Schweiz hat an einige Kollegen, die Leiter waren der departments of Psychiatrie…hat geschrieben und gesagt, wenn ich komme, ich soll mich da anmelden. An die Yale Universität hat er geschrieben, an den Dekan, und an den Dekan an der Columbia University hat er geschrieben. Und da waren keine Schwierigkeiten für mich, hinzugehen und zu sagen: „Ich bin da, kann ich arbeiten?“ Natürlich musste ich noch ein internship machen, weil das gibt es ja nicht in Österreich, das obligatorische internship. Man kann da gleich in die Spezialität gehen. Und das musste ich hier machen, und nachher bin ich dann zur NYU [New York University] gegangen. Man brauchte Leute, und ich habe ja die Ausbildung gehabt.

TG: Das heißt, für Sie stand auch nicht infrage, in die U.S. Army zu gehen, um für ein befreites Europa zu kämpfen?

PN: Ich hätte gekämpft, wenn es eine sozialistische Armee gewesen wäre, gegen jemanden, oder für Palästina. Natürlich konnte ich in die Armee gehen. Wenn ich in die Armee gegangen wäre in Amerika, konnte ich nicht als Doktor gehen, weil ich ein Ausländer war. So hätte ich als gewöhnlicher Soldat gehen müssen…für so lange der Krieg dauerte. Das wollte ich nicht. Vielleicht wenn man gesagt hätte: „Du kannst als Arzt gehen“, hätte ich es getan. So viele Leute waren im Krieg damals, dass die Leitung mir gesagt hat: „Bitte, bleiben Sie! Wir brauchen Sie.“

TG: Das heißt, Ihnen ist nichts mehr daran gelegen, Österreich zu befreien? Ihnen war das auch nicht mehr eine Vorstellung, danach nach Österreich zurückzukehren?

PN: Überhaupt nicht. Ich habe kein Gefühl gehabt für die Freiheit von Österreich, nach dem, was geschehen war, nachdem ich gesehen habe und gehört habe, mit welch großer Begeisterung viele der Österreicher sich angeschlossen haben, [19]38. Und dann all die Leute, die ich gekannt habe, besonders in Krems, wo so viele doch Nazis waren: Lehrer, Studenten…

TG: Haben Sie hier in New York, als Sie angekommen sind, in den [19]40er-Jahren, Kontakt zu anderen Immigranten gehabt, österreichischen Immigranten?

PN: Ja, nicht weil ich es gesucht habe…nicht um einen Zusammenhang oder Freundschaft zu finden. Die haben dort auch in Spitälern gearbeitet, oder ich kannte sie von Wien. Die Leute, die ich von Wien gekannt habe oder aus der Schweiz, mit denen habe ich natürlich weiter Freundschaft behalten. Aber ich habe die nicht ausgesucht, um eine österreichische Bindung zu haben.

TG: Es gab ja auch jede Menge sozialistische Bewegungen.

PN: Das habe ich hier weiter getan. Da waren sozialistische Vereinigungen und linke, ganze linke Vereinigungen, wo ich natürlich sofort teilgenommen habe.

TG: Das waren aber keine ausgesprochen österreichischen Immigranten, sondern--

PN: --nein, Amerikaner.

TG: Amerikaner. Haben Sie damals…es gab ja eine Zeitschrift, die hieß Austro American Tribune. Ist Ihnen die ein Begriff?

PN: Nein.

 

2/00:19:46

 

Meine politische Einstellung, damals hier, für viele Jahre, war eine ganz marxian, ganz linke. Und das Einzige, das mich wirklich gestört hat, war der Angriff von Russland auf Finnland. Das habe ich nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob Sie sich das erinnern können. Das erste, das Russland getan hat, bevor die Nazis hineingekommen sind, war, sie haben Finnland angegriffen. Sie haben gesagt, sie brauchen das zur Verteidigung von vanguard und so fort. Was ist da los, dass ein sozialistisches, kommunistisches Land einfach ein anderes Land angreift? Das macht man ja nicht. Das ist ja gegen die Idee der internationalen, sozialistischen Ideologie.

TG: Aber das muss Ihnen ja früher schon irgendwie merkwürdig vorgekommen sein, beim Hitler-Stalin-Pakt?

PN: Ja, und das war natürlich Stalin, und ich war dann in diesen Gesellschaften, in denen ich zusammen war mit anderen Kollegen – die meisten Ärzte. Wenn ich da gesprochen habe, dass ich das nicht verstehe und dass Stalin da Sachen macht, die einfach anti-marxistisch sind…die waren sehr bestürzt, dass ich so gesprochen habe. Und nach einiger Zeit, nach ein paar Jahren, bin ich dann ausgetreten und habe gesagt, ich kann da nicht mehr weiter mittun.

TG: Wie hat sich das generell vereinbaren lassen, nach Amerika zu gehen, das ja doch ein sehr kapitalistisches Land war, ist? Wie sind Sie mit dieser Situation zurechtgekommen?

PN: Natürlich, es ist ein kapitalistisches Land, aber da war ja auch eine ganz kleine kommunistische Partei, die dann von [Jacques] Duclos, von den Franzosen, sehr beschimpft wurde, weil er gedacht hat, dass die kommunistische Partei hier nicht aktiv genug ist und Russland nicht genügend unterstützt. Und das war ein interessanter internationaler Kampf zwischen den kommunistischen Parteien. Und das habe ich auch nicht verstanden, warum die französische kommunistische Partei, die dann ganz zusammengefallen ist und wirklich nichts mehr getan hat, da die amerikanische angreift und wirklich gestört hat…wenn nicht sogar zerstört hat, den ganzen kommunistischen Begriff hier. Aber Sie haben ganz recht, sie war ganz klein…die links-politisch sehr interessant war. Aber natürlich, politisch haben sie überhaupt keine Macht gehabt, keinen Einfluss gehabt. Die kommunistischen Mitglieder waren aktiv in Hollywood. Dann ist die ganze Hollywood-Geschichte geschehen mit [unklar]. Die waren wichtig in den Gewerkschaften. Da haben sie wirklich sehr wichtige Sachen getan, aber das war alles. Und das Land hier war im Krieg…im Krieg war man genügend patriotisch zu sagen, sie hoffen, die Nazis zu bekämpfen, und nicht da zu sagen: „Naja, es ist kapitalistisch.“ Und [Franklin D.] Roosevelt hat nicht wie ein Kapitalist gesprochen, der hat wie ein Sozialdemokrat gesprochen. [Lacht.]

TG: Warum ich Sie wegen dieser Zeitung, Austrian American Tribune [meint: Austro American Tribune.], frage: Es haben natürlich viele Kommunisten und Sozialisten aus Österreich, die fliehen mussten, sich hier in Amerika organisiert, mit dem Ziel, Österreich später sozialistisch aufzubauen.

PN: Das war aber nicht meine…meine Idee war damals schon, ja, Sozialismus ist wichtig, aber dann in Israel, in Palestine…wie meine Schwester, in die Kibbuz-Bewegung hineinzukommen. Und da ein sozialistisches Leben zu führen, wo alle gleich sind. Das war der Weg. Und meine Schwester war da und ist da im Kibbuz, mein Bruder war in einem Kibbuz. Und wahrscheinlich, wenn ich nicht nach Amerika gekommen wäre, entweder hätte ich eine Stelle bekommen an der Universität oder irgendwo von meiner Ausbildung, oder ich wäre auch in einen Kibbuz gegangen.

TG: Sie meinen, wenn Sie nach Israel gekommen wären?

PN: Ja. Meine Wahl wäre nicht gewesen, nach Österreich zurückzugehen.

 

2/00:25:24

 

TG: Haben Sie das später weiterhin verfolgt, nachdem es möglich gewesen wäre?

PN: Ja. Ich habe es verfolgt, weil ich sofort nach dem Krieg gefragt wurde, zum Beispiel für die Hadassah [Zionistische Frauenbewegung in den USA], ich soll untersuchen, was man in Israel gemacht hat über das youth movement, die kranken Kinder von der Alija, die krank nach Palästina gekommen sind und in Krankenheimen gewesen sind. Da hat man mich hinübergeschickt. Ein paar Monate später war ich an der Universität, und später habe ich eine internationale Untersuchung gemacht über die Kinder in Kibbuzim, wie die dort aufwachsen. Ich war da immer und bin noch immer verbunden mit Israel, beruflich und natürlich mit meiner Schwester. Ich habe da mitgetan, aber ich bin nicht eingewandert.

TG: Sie haben ja öfters zwischen dieser zionistisch-sozialistischen Ideologie…das waren immer sehr wichtige Punkte in Ihrer Entwicklung. Haben Sie sich, als Sie in New York waren, in jüdischen Vereinigungen irgendwie…sind Sie da aktiv gewesen?

PN: Nein, die Leute, die ich…mein soziales oder anderes Leben war viel…die Leute, die ich kennengelernt habe, die waren alle – beinahe alle – Schriftsteller, Ärzte, Künstler, Schauspieler…das waren alle Linke, alles Leute, die der linken Bewegung zugehört haben…Kommunisten. Aber man hat das nie gesagt, Kommunisten. Das hat man nie verlautet, dass man ein Kommunist ist. Aber die waren alle links. Es waren viele Leute von…besonders Schriftsteller und von Hollywood und von den Ärzten. Das war meine soziale und politische Aktivität, die mich da überall hineingeführt hat, in alle möglichen Bewegungen, um zu unterstützen die Arbeit dieser Leute, als Gruppe oder individuell. Aber ich bin nicht zu…ich habe mich nicht besonders gesucht, in jüdische Vereinigungen mich einzufinden. Das habe ich nicht getan. In den letzten zwanzig oder 30 Jahren mit der UJA [United Jewish Appeal-Federation], mit unserem Mental Health Department, wo wir uns treffen und Geld sammeln und solche Sachen natürlich, oder mit der Hadassah nach Israel zu gehen. Aber nicht wirklich in einem politischen Sinn…pro-Israel natürlich und unterstützt, finanziell und anders, aber nicht politisch.

TG: Mit der McCarthy-Ära haben Sie allerdings auch Ihre politische Sympathie oder Aktivität eingestellt. Habe ich das richtig verstanden?

PN: Ja, natürlich, wir haben alle gewartet, ob die unsere Namen wissen, ob man in Washington unsere Namen weiß. Oder wenn man…man hat mich gefragt zur NYU, und dann das war in Brooklyn die Universität, ich soll da hinkommen an die Fakultät, aber ich muss schreiben, ob ich jemals ein Kommunist war oder ein Ding war…ein loyalty oath unterschreiben. Und ich habe gesagt: „Ich tue das nicht.“ – „Warum machst du das nicht? Du machst uns Schwierigkeiten. Du wolltest doch an unserer Fakultät sein.“ Da sagte ich: „Nein, ich tue das nicht.“ Da sagten sie. „Wir nehmen dich an, aber wir sagen nicht, dass du es nicht getan hast.“ Später wurde ich in einer Senatanhörung…da wurde festgestellt, dass ich zu…das war so. „Wir nennen jetzt die Leute, die zu den Vereinigungen gehören, die pro-Russland sind.“ Und da waren Leute, die zu zehn Vereinigungen, zu zwanzig Vereinigungen gehören. Und unter fünf Vereinigungen war mein Name: Der Neubauer gehört zu fünf pro-russischen Vereinigungen und Gesellschaften und so fort. Das war veröffentlicht.

TG: Können Sie da einige aufzählen?

PN: Erstens habe ich mir gedacht: Warum nur fünf? [Lacht.] Woher haben die das? Und zweitens, die nächste Woche wurde ich vom Senat gefragt, ob ich vielleicht nach Ägypten gehen will, als Ambassadeur für Amerika, um da für ein politisches Programm von Amerika, um verschiedenen Staaten in der Welt zu helfen…die haben da Leute hingeschickt. Und die haben mich gefragt, ob ich gehen würde. Aber ich musste unterschreiben, ob ich jemals zu diesen Leuten gehört habe.

 

2/00:31:23

 

[Übergang/Schnitt.]

 

PN: Meine jüdische Identität war immer da. Und das war sehr wichtig für mich, nicht nur Palestine und dann Israel, aber auch von meiner Kindheit an…das Jüdische war sehr wichtig für mich, und was das heißt, ein Jude zu sein, und die Geschichte des Judentums und die Ideologie des Judentums und die Gesetze des Judentums und…was ist der Unterschied zwischen Christlichkeit und Judenheit, und was hat Jesus dazu getragen, was möglich und nicht möglich war und so fort und so fort. Und das interessiert mich heute auch noch immer, und ich gehöre zu vielen…zu Untersuchungen. Aber ich war auch der Direktor eines Child Development Center, das war mit dem Jewish Board of Guardians, das war ganz jüdisch, aber natürlich, die Patienten, die wir gehabt haben, die sind von der ganzen Stadt gekommen. Die waren nicht nur jüdisch, aber es war jüdisches Geld und jüdischer Einfluss, der es gegründet hat, the Jewish Board of Guardians. So war ich da immer als Jude, sozusagen, da…und zusätzlich habe ich an der Universität unterrichtet.

TG: Wie haben Sie in Amerika die Jahre des Kalten Krieges erlebt, zwischen [19]50 bis, sagen wir, Ende der [19]60er-/[19]70er-Jahre?

PN: Wie ich das gefunden habe?

TG: Ja, wie Sie das empfunden haben.

PN: Es war für mich sehr schwierig. Einerseits…wie heute noch, ich bin voll von Begeisterung über Amerika. Immer wieder, wenn ich sehe, was los ist in New York, dass die Leute von der ganzen Welt reinkommen, und New York ändert sich und ändert sich immer. Es ist nicht wie Bern oder Paris oder London, das war immer da, und es bleibt so, wie es gewesen war, trotzdem Immigranten kommen. Aber hier, das ganze Leben ändert sich, das Essen ändert sich, die Musik ändert sich…ich bin ganz begeistert, dass da ein Land ist, wo die Leute kommen von Russland oder Japan, und zwei Monate später sind sie Amerikaner. [Lacht.] Was heißt, du bist ein Amerikaner geworden? Naja, ich glaube an die Freiheit, ich glaube das, wenn ein Krieg ausbricht, würde ich gehen…was ist da geschehen, dass die ganzen Geschichten, über hunderte Jahre, sich plötzlich in ganz kurzer Zeit verändern und die werden alle Amerikaner sein? Es ist unglaublich, und es ist für mich von einem sozialistischen Gesichtspunkt etwas sehr Richtiges und Wichtiges, dass die nationalen Grenzen sich ändern können und dass die Menschen als Menschen gesehen werden und nicht identifiziert werden mit einer gewissen Landschaft oder Geschichte. Natürlich ist das wichtig…ich war Jude, und meine Geschichte war mir wichtig. [Lacht.]

 

2/00:35:01

 

Ich bewundere Amerika. Es ist eine unglaubliche, menschliche Erfahrung, was man hier in den letzten 200 Jahren gemacht hat – und noch immer macht. Trotzdem, natürlich ist es kapitalistisch, und wenn ich jetzt mit Leuten sprechen würde – was ich an sich tue –, sage ich: „Naja, man lebt hier in Amerika in einer kapitalistischen Demokratie. Ich glaube nicht an eine kapitalistische Demokratie. Ich glaube an eine sozialistische Demokratie. Ich bin ein social democrat…sozialistisch soll die Demokratie sein.“ Es gibt viel mehr Möglichkeiten. Wenn jemand 40 Millionen Dollar besitzt, da ist etwas Unanständiges dabei. Das kann doch nicht sein, das hat ja keinen Sinn. Und Billionäre…ich habe viele Billionäre als meine Patienten…da ist etwas falsch, da ist etwas unrichtig in dieser kapitalistischen Möglichkeit, dass jeder so weit gehen kann, wie er will…bis es unsinnig wird. Das ist die kapitalistische Einstellung. So bin ich natürlich kritisch, obwohl ich auch die Regierung und das Land mit einer gewissen Dankbarkeit ansehe.

TG: Wie sehr beziehen Sie Ihre Erlebnisse, was Ihnen im Leben zugestoßen ist, in Ihre Arbeit mit ein? Wie sehr lassen Sie das einfließen? Oder hat das überhaupt eine Auswirkung darauf gehabt?

PN: Meine Arbeiten über Entwicklung oder die Arbeit zusammen mit Anna Freud, mit England, oder mein Unterrichten oder die Bücher, die ich geschrieben habe, und die Arbeiten, die ich geschrieben habe, waren im Allgemeinen nicht beeinflusst. Das hängt davon ab, was ich wichtig gefunden habe, klinisch oder theoretisch. Es gab natürlich Ausnahmen. Wir haben lange Sitzungen gehabt, für fünf, sechs Jahre, um zu verstehen, was Antisemitismus ist, mit Leuten von…mit dem [unklar], der war der Leiter des Leo Baeck Institutes, für eine Zeit, als Historiker, und andere Leute, und wir haben daran gearbeitet. Das war natürlich unser Interesse, das zu verstehen oder zu verstehen die violence oder solche Geschichten…oder mit Wiesel, mit Elie Wiesel, in einigen Sachen zusammengearbeitet. Aber das war nicht die Hauptbewegung meiner Arbeit.

TG: Sie haben ja in dem Werk Psychoanalyse und Selbstdarstellung [meint: Psychoanalyse in Selbstdarstellungen.] einen Artikel geschrieben: Meine Suche nach der Heimat [meint: Meine Suche nach einer Heimat]. Wie sehr ist für Sie Amerika Heimat?

PN: Nicht die Heimat…es ist ein Land, das ich begeistert ansehe. Es ist nicht eine Heimat. Ich habe keine Heimat. Das hat Vorteile, weil ich die Welt sehen kann, ohne die Grenzen einer besonderen Sicht der Welt, die von einem besonderen Standpunkt kommt. Es hat natürlich den großen Nachteil, dass ich mir sage…bin ich ein Amerikaner? Ja, ich bin ein Demokrat. Ich bin kein Amerikaner, ich bin kein Israeli, ich bin kein Österreicher. Ich bin nicht gebunden, und es tut mir leid in einer gewissen Beziehung. Wenn ich Leute sehe, die sagen: „Naja, mein Dorf, da haben wir sehr lange gelebt, und meine Eltern waren hier, meine Großeltern waren hier, und wir kennen jeden.“ Das ist ein Heim. Ideologisch kann ich eine Heimat haben, aber nicht eine Heimat vom Gesichtspunkt der Erfahrung, der perception, des Geruches, des Lands, des Wertes.

Und das wollte ich so schreiben in diesem Aufsatz, dass meine…und ich glaube, die Leute meiner Zeit haben das Heim verloren, sind heimatlos, wo immer sie jetzt sind.

 

2/00:40:31

 

TG: Hatten Sie auch Patienten, die speziell unter dieser Situation gelitten haben?

PN: Ja, nicht weil ich sie gesucht habe…ob sie Japaner sind, die jetzt hier leben, oder politisch waren, von Frankreich oder von Deutschland, aber…es war interessant, ich habe daraus keine Studie gemacht, über die Heimatlosigkeit…politische Heimatlosigkeit von Patienten. Ich habe nicht darüber gearbeitet. Das sollte man tun. Das Leo Baeck Institute sollte das tun.

TG: Sie waren ja aufgrund Ihrer Arbeit öfters in Österreich, haben Vorlesungen gegeben, die Sigmund Freud Vorlesungen.

PN: Ja, die Freud Lecture.

TG: Wie geht es Ihnen, wenn Sie nach Österreich kommen?

PN: Das hängt davon ab, wann und warum. Es war gefühlsmäßig sehr wichtig für mich, zur Universität zurückzugehen. Da war die Universität, die mich rausgeworfen hat, die Universität, die antisemitisch geworden ist, und da bin ich im Festsaal eingeführt worden, und da komme ich zurück, nicht nur als angenommener Student, sondern als angenommener Professor, um die Freud Lecture zu geben, den wichtigen Österreichern. Und ich habe in meiner Einleitung gesagt: Ich komme hier zurück mit verschiedenen Gefühlen. Ich bin dankbar, und ich bin froh, dass ich da Freud Lecture habe und Freud ehren kann. Aber ich komme ja auch zurück, und ich sage mir: Wie ist es gewesen? Dass man jetzt zurückkommt und vorher rausgeworfen wurde. Ich war glücklich, dass ich am Leben bin. Und ich kam hier zurück, und in einer gewissen Beziehung wollte ich gar nicht da sein. Das habe ich gesagt.

TG: Also wenn Sie nicht eingeladen worden wären, wären Sie dann auch nach Österreich gekommen?

PN: Nein, wahrscheinlich nicht.

TG: Haben Sie, als Sie damals in Österreich waren, irgendwelche Orte wieder aufgesucht?

PN: Natürlich, ich habe alles aufgesucht. Ich habe Krems aufgesucht, da bin ich immer wieder hingefahren und habe Spaziergänge gemacht, und Dürnstein und in den Wald hinauf und all die Sachen, die ich in meiner Kindheit gekannt habe. Ich habe Leute gesucht und bin da rumgelaufen, von einer Stelle zur anderen, als ob ich keine Zeit hätte. Ich muss es wieder aufnehmen und wieder kennenlernen. Natürlich, alles ändert sich. Was so groß war, ist jetzt klein, wenn man erwachsen ist. Die Leute waren nicht da, die Juden sind nicht dagewesen. Die Leute vom Symphonieorchester, es war niemand da. Da habe ich nicht den Zusammenhang gefunden, ich habe nur den Platz gefunden.

TG: Wie sehr verfolgen Sie die politische Entwicklung in Österreich?

PN: Nachdem ich jetzt wieder Österreicher geworden bin…natürlich habe ich gewählt, und es war mir wichtig, gegen [Jörg] Haider zu wählen und sozialdemokratisch zu wählen. Ich verfolge das und meine Freunde dort, [unklar] und so fort, der Erziehungsminister von Wien ist, und so fort, wir haben andauernd Zusammenhang. Und die kommen hierher und wohnen bei mir, und ich bin dort und so fort. Da habe ich Zusammenhang, und natürlich ist mir das politisch wichtig.

TG: Was für eine Erklärung haben Sie, dass in Österreich doch fast ein Drittel der Wähler sich für einen Mann wie Haider begeistern kann?

PN: Ich kann es nicht erklären. Ich denke mir nur, so wie in der Schweiz jetzt die Wahl war, letzte Woche…oder in Frankreich…Österreich hat so viele Menschen eingenommen, und Österreich wollte doch zeigen, in einem gewissen politischen Gesichtspunkt, dass es eine gewisse Freiheit hat, und natürlich die sozialdemokratische und christlichsoziale Vereinigung, dass es doch eine gewisse Menschlichkeit hat und offen ist. Dass das für viele Leute zu viel war, mit den Jugoslawen, mit den anderen…und nicht sagen, Wien war doch immer offen. Das ist ja nichts Neues, dass die Jugolsawen nach Wien kommen. [Lacht.] Oder die Tschechen oder die Ungarn…das war ja immer Österreich. Das war das Schöne vom österreichisch-ungarischen empire, dass es offen war…100 Jahre zu früh, 150 Jahre zu früh. Die waren offen. Das war nicht eine nationalistische Bindung dort, das war eine Offenheit das erste Mal in Europa…mit Ausnahme von Russland, weil Russland die ganzen Staaten bis nach Osten eingenommen hat.

 

2/00:46:30

 

Ich kann mir aber vorstellen, dass die, die nationalistisch sind und das Fremde nicht wollen, und dass die, die eifersüchtig sind, dass die anderen die Arbeiten wegnehmen, dass dann immer wieder eine Bewegung kommt, die sagt: „Genug ist genug“, in allen Ländern. Die wollen das nicht, diese Menschen, die sehr beeindruckt sind und die sich unsicher fühlen…nationalistisch unsicher oder religiös unsicher. Und das sieht man ja überall. Ich glaube nicht, dass da eine wirkliche Gefahr ist für Österreich, ganz nach rechts zu kommen. Das glaube ich nicht. Das gibt es ja nicht mehr. Aber, dass immer die Verschiebungen kommen…und sogar in der Schweiz auch für dieselbe Richtung: „Wir haben zu viele Fremde hier.“ Wer ist denn ein Schweizer? Der cheibä Usländer, sagen die.

TG: Also Sie beziehen diese Ausländerfeindlichkeit auch nicht so sehr…bringen Sie nicht mit Antisemitismus in Verbindung?

PN: Nein, das ist einfach gegen Ausländer. Dass Antisemitismus in Österreich ist…natürlich.

TG: Aber, dass er dadurch einen neuen Aufschwung bekommt?

PN: Die polnischen Regierungen…wenn ich in Polen bin, glaube ich, dass die Leute und die Regierung wirklich die Juden haben möchten. Die denken: „Wir haben ein wunderbares Leben da. Wir möchten die zurück haben.“ Die versuchen wirklich alles zu tun, um sie zu unterstützen. Da sind viele Polen heute, die sagen, sie sind Juden, damit sie den Vorteil haben, angenommen zu werden. [Lacht.] Das gibt es heute in Warschau und in Krakau. Das würde nie in Österreich sein. [Lacht.]

TG: Also Sie haben auch nicht die Befürchtung, dass durch so eine Entwicklung, wie sie sich derzeit zeigt, auch der Antisemitismus wieder stärker auftritt?

PN: Ideologisch ja, aber politisch? Es sind ja keine Juden da.

TG: Also es ist niemand da, gegen den es sich richten kann?

PN: Gegen wen? Da waren in Deutschland 600.000 Juden von 60 Millionen Menschen. In Österreich waren fast 200.000 Juden bei sechs Millionen Menschen…besonders in Wien. Was gibt es da jetzt? 10.000 Leute, 15.000 Leute? Ungarn hat 70.000.

TG: Gut, ich bedanke mich für das Interview. Ich hätte natürlich gerne noch andere Fragen an Sie gestellt.

[Ende des Interviews.]