Trude | Goldblatt |
Trude Goldblatt wurde 1927 als Trude Deutsch in Wien geboren und lebte im 7. Wiener Gemeindebezirk. Nach den Novemberpogromen 1938 musste die Familie in eine Sammelwohnung ziehen. Gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder konnte Goldblatt 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien fliehen. Dort lebte sie bei einer christlichen Familie und machte die Ausbildung zur Krankenpflegerin. Während einem Besuch bei ihrer Schwester in Israel beschloss sie dort zu bleiben. Sie gründete eine Familie und war als Hebamme und Bibliothekarin tätig. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte Goldblatt in Tel Aviv. |
Vollständiges Interview
Teil 1 |
in chronologischer Reihenfolge
Teil 1
LSY: Interview mit Trude Goldblatt, am 4.2.2013. Ich würde bitten, dass du mir erst mal deine Lebensgeschichte von dir aus erzählst, und ich werde dann später einfach noch ein paar Sachen nachfragen, wenn das in Ordnung ist.
TG: Von welchem Alter soll ich anfangen?
LSY: An das, was du dich erinnern kannst…das Allerfrüheste, was du dich erinnern kannst.
TG: Das Allerfrüheste? Von meiner Geburt? Das ist sehr lustig.
LSY: Ja, dann wollen wir es hören.
TG: Meine Mutter hat sehr spät geheiratet, hat eine Tochter erzeugt, und sie ist wieder schwanger geworden. Und als erstes kommt raus ein Junge, und meine Mutter war sehr glücklich, weil eine Tochter hat sie, und einen Sohn. Da hat der Doktor gesagt: „Frau Deutsch, warten Sie ein bisschen, da kommt noch etwas nach!“ Und meine Mutter, in Aufregung, ruft: „Herr Doktor, was haben Sie mir angetan?“ Und so wie die Geschichte geht…sie wollte mich gleich wegschenken. Also, theoretisch bin ich ein unerwünschtes Kind. [Lacht.] Aber ich war sehr stolz, dass ich einen Zwillingsbruder hatte. Das ist eine Geschichte, die ich nie vergessen werde.
Wir haben in Wien im 7. Bezirk gewohnt, hatten ein Geschäft, wo beide Eltern – und Hilfe – gearbeitet haben. In die Volksschule bin ich in Wien gegangen. Dann, [19]38, sind alle jüdischen Kinder in eine sogenannte Judenschule geschickt worden, bis mein Bruder und ich ausgewandert sind nach England, mit elf Jahren. Und meine Eltern sind zurückgeblieben in Wien, und leider haben sie den Krieg nicht überlebt. In England bin ich in die Schule gegangen. Ich hatte Glück und bin in eine sehr gute Schule gegangen…habe bei einer Familie gelebt, die vier Töchter hatten, und sie haben mich als fünfte Tochter aufgenommen. Eine christliche Familie, und natürlich bin ich miterzogen worden – christlich. Das heißt, an einem Sonntag sind wir viermal in die Kirche gegangen. Ich habe mehr über Christentum und das Neue Testament gewusst, bevor ich nach Israel gekommen bin, als über Judentum. Das hat aber niemandem geschadet. Nachdem ich mein Abitur gemacht habe, bin ich in die Schwesternschule gegangen und habe Kinderschwester gelernt und dann Hebamme, in einem anderen Spital, bis ich beschlossen hatte, dass ich nicht genug Geld verdiene, und bin eine ziemlich kurze Zeit privat arbeiten gegangen, bei einer Familie. Und da ist mir die Idee gekommen, ich muss meine Schwester in Israel besuchen. Das war damals noch Palästina. Und so bin ich nach Israel gekommen, habe meinen Mann da kennengelernt, habe geheiratet, habe zwei Söhne produziert, habe immer gearbeitet in einem…als Hebamme…in einer…wie nennt man so ein Spital, das nur Geburten und solche Sachen macht?
1/00:05:51
LSY: Da gibt es keinen Extranamen.
TG: Ich glaube, es gibt einen Namen, aber weiß ich nicht. Bis ich alleine schwanger wurde, und ich durfte nicht mehr arbeiten, und so habe ich ein Privatleben begonnen, ohne zu arbeiten. So habe ich meine Kinder in die Welt gebracht und sie gepflegt. Dann…es war mir langweilig, da habe ich beschlossen, im Spital arbeiten ist mir zu schwer mit zwei Kindern zu Hause und meinem Mann. Da habe ich einen Kurs gemacht als librarian…das ist Deutsch?
LSY: Nein, das ist Englisch, aber das ist--
TG: --es gibt ein Wort.
LSY: In der Bücherei? Leiterin…Büchereileiterin? Aber librarian…ich weiß.
TG: ספרנית [hebr., Bibliothekarin] Safránit auf Hebräisch. Und mein Mann ist krank geworden, und ich habe Arbeit bekommen in einem Buchgeschäft, und so bin ich reingekommen in dieses Fach – zuerst in einem Geschäft, das auch eine Bibliothek hatte. Und ich habe die englische und die Kinderabteilung unter mir gehabt. Dann sind wir…wir hatten gewohnt außerhalb von Haifa, in einer Vorstadt, und das war meinem Mann zu schwer. Da sind wir nach Haifa gezogen. Und da habe ich weiter gearbeitet im Buchgeschäft, bis mein Mann gestorben ist und ich…man hat mir Arbeit angeboten im Technion…die technische Universität…die Bücherabteilung vom Studentengeschäft zu führen. Das war sehr interessant, weil ich habe selbst die Lehrbücher bestellen müssen und auch andere Bücher für normale Kunden, habe Ausstellungen gemacht mit Kunstbüchern, auch technische Bücher. Auf alle Fälle war es ein hochinteressanter Arbeitsplatz. Und außerdem bin ich jedes Jahr nach Frankfurt gefahren, zur Buchmesse. Der Kontakt mit den verschiedenen Verlagen war hochinteressant, und auch lehrreich.
1/00:10:00
Frankfurt habe ich nicht sehr viel gesehen, aber es war doch eine gewisse Zeit, die man ewig im Kopf behaltet. Es war hochinteressant. Bis mein Mann gestorben ist…das ist jetzt beinahe 33 Jahre…und da habe ich beschlossen, ich verlasse Haifa und suche mir eine kleine Wohnung in Tel Aviv, dass ich näher zu meinen Söhnen bin, die beide im Militär waren in der Zeit. Mein großer Sohn als Tankist schon ein höherer Offizier. Mein kleiner Sohn war in der Luftwaffe als Flieger. Und so bin ich nach Tel Aviv gekommen von Haifa, habe angefangen zu arbeiten, mit der…oder für die Gesellschaft…wie heißt sie?
LSY: Wie heißt sie auf Hebräisch?
TG: Die, die auch die Häuser haben.
LSY: Für die ארגון [hebr., Die Vereinigung]?
TG: Für die ארגון [hebr., Die Vereinigung].
LSY: ארגון יוצאי מרכז אירופה, [hebr., Die Vereinigung der Israelis mitteleuropäische Herkunft].
TG: Da habe ich gearbeitet, wirklich für die ארגון [hebr., Die Vereinigung] habe Leute besucht, die nicht aus dem Haus konnten. Ich habe einmal in der Woche telefonischen Kontakt aufrechterhalten und habe den Leuten Mut gegeben, die nicht das Geld hatten, um in ein Heim zu kommen. Weil ein Altersheim ist ein großer Luxus – ich glaube, auch in Deutschland. Und mit 74 Jahren, das war etwas jung, bin ich in dieses Heim gekommen, habe aber weitergearbeitet für ארגון [hebr., Die Vereinigung] . Ich habe auch da englischen Unterricht gegeben und habe verschiedene Spiele oder Kreuzworträtsel oder solche Sachen organisiert am Abend. Bis vor…ja, bis ich 80 wurde, und da habe ich mich zurückgezogen.
Eine interessante Sache will ich erwähnen…die ich interessant finde. Ich habe mich immer für Kunst interessiert. Es spielt keine Rolle, ob es Zeichnen, Musik, oder was es auch ist. Und ich habe mich beteiligt in einem Zeichenkurs, im Altersheim, habe angefangen mit einem Bleistift, wo ich nicht einmal eine Katze gezeichnet hatte, bis ich heutzutage soweit bin, dass ich mit Ölfarben male und eine Ausstellung mache. Und ich finde, ich bin nichts Besonderes, aber nachdem bald Pessach oder Ostern ist, habe ich für die meisten Angestellten da…die bekommen jeden Feiertag ein Geschenk von mir…habe ich Canvas gekauft und habe zwanzig Bilder von Blumen gezeichnet. Und die werden sie bekommen, zu Pessach. Das ist außerhalb der Ausstellung. Wie lange ich noch leben werde, weiß ich nicht, aber ich hoffe, ich werde mein Leben beendigen, so dass ich weiter Leuten helfen kann – soweit es mir möglich ist – und natürlich weiter meine Hobbys auszuführen. Genug!
1/00:15:48
LSY: Kann ich dann noch ein paar Fragen stellen?
TG: Ja, aber lauter!
LSY: Ja, lauter. In welchem Jahr bist du geboren?
TG: In Wien.
LSY: In welchem Jahr?
TG: [19]27.
LSY: [19]27. Und wie würdest du dein Elternhaus beschreiben? Wart ihr religiös, wart ihr säkular?
TG: Die meisten alten…älteren Leute glauben, wenn man in ein Altersheim kommt, das ist die letzte Station. Das heißt, man kommt nur noch und wartet auf den Tod. Ich probiere…so lange ich noch tätig war, habe ich immer Gruppen gehabt und habe denen erklärt, dass, wenn man soweit ist, dass man in ein Altersheim kommt, weil man ein leichteres, bequemeres Leben haben will, und weniger Verantwortung…und es ist eigentlich nur, dass man die vier Wände gewechselt hat, nicht aufgegeben das Heim, sondern ein neues Heim, etwas kleiner, aber mit den eigenen Möbeln, die eigenen Sachen, und ein neues Leben angefangen hat, auch wenn man an die 80 Jahre alt ist.
LSY: Ich komme nochmal zurück nach Wien. Wie würdest du deine Eltern beschreiben? Was waren das für Menschen?
TG: Meine Eltern waren sehr fleißig. Wir haben zwar ein Kindermädchen gehabt, aber wir waren nicht reich. Wir waren sehr…wir waren nicht arm, aber die Eltern haben sich gesorgt um die Kinder, haben uns alles Mögliche, was in ihren…wie gesagt…in ihren Verhältnissen möglich war, haben sie uns gegeben. Ich kann mich nur erinnern, mein Vater war jünger als meine Mutter, aber das war so eine schöne Ehe. Nachdem man so alleine verheiratet war…in Israel ist es etwas schwerer vielleicht, weil das Leben ist schwerer als es damals in Wien war. Aber so ein schönes Leben, trotz Arbeit, und Bescheidenheit…sie haben ein sehr, sehr schönes Leben gehabt. Und gute Eltern waren sie.
LSY: War eure Familie religiös oder säkular?
TG: Wir haben die hohen Feiertage gehalten. Wir haben ein koscheres Haus gehalten, aber…wenn wir Kinder krank waren, ist meine Mutter ins Delikatessengeschäft gegangen und hat uns ein Schinkenbrötchen gekauft, weil sie gesagt hat: „Schinken wird euch schneller gesund machen.“ [Lacht.] „Aber man darf es dem Papa nicht erzählen.“ Aber wir haben ein koscheres Haus gehalten, und wir Kinder wurden geschickt, an einem Samstag, zu einer Art Religion…ich weiß nicht, wie das zu erklären, aber im Tempel hat es am Samstagnachmittag für die Kinder eine Aufklärung, oder ich weiß nicht wie…wir haben versucht, Hebräisch zu lernen und etwas über Judentum.
1/00:20:52
LSY: Und wie war das in der Schule? War das eine jüdische Schule?
TG: Nein, das war eine ganz gewöhnliche Volksschule. Und meine Schwester ist noch ins Gymnasium gekommen. Wir waren zu jung. Wir sind geschickt worden in diese sogenannte Judenabteilung oder Judenschule, bis wir ausgewandert sind.
LSY: Kannst du dich noch an den Anschluss erinnern, 1938?
TG: Ja.
LSY: Was für Erinnerungen hast du da?
TG: Das hat angefangen, dass man meinen Vater geholt hat, er soll die Straßen sauber machen, oder waschen oder was. Irgendein Polizist hat ihn befreit von dem, und wir haben ihn versteckt im Kohlekeller. Dann, in der Kristallnacht, da sind…es waren ein paar jüdische Familien in unserem Block, in unserem Haus, das so wie…die Wiener Häuser sind mit einem Hof und drei Abteilungen. Da sind wir alle in eine kleine Wohnung gesteckt worden. Ich kann mich erinnern, ein SA-Mann ist gekommen und hat meine Mutter geholt – weil die war im Schlafrock – und meine Mutter hat mich mitgenommen. Er hat uns in die Wohnung geführt, und meine Mutter konnte nehmen, was sie wollte, außer die…wo wir das Geld gehalten haben…die Kasse, oder wie das heißt. Das durfte sie nicht anrühren, aber Kleidung durften wir mitnehmen.
LSY: Kannst du dich erinnern, ob es auch vor dem Anschluss Antisemitismus gegeben hat? Hast du irgendwas erlebt?
TG: Ja. Nur ein persönliches Beispiel: Ich hatte eine Freundin, eine Schulfreundin, die hatten ein Gasthaus…ja, Gasthaus nennt man das…und der Vater hat mich rausgeschmissen, wie ich sie einmal abgeholt habe zum Spielen. Er hat mich rausgeschmissen, weil ich eine Jüdin bin. Das war mein persönlicher…mein Vater hat eine Familie, in dem Haus, wo wir wohnten, unterstützt, weil sie in Schwierigkeiten gekommen sind, und es hat sich herausgestellt, dass…der Mann war ein Nazi. Und ich bin überzeugt, dass, wie meine Eltern nach Theresienstadt gekommen sind…und sie hatten Esspakete bekommen, eine Zeit…dass diese Nachbarn das geschickt haben. Eigentlich, mein Vater war blond…meine Mutter hat jüdisch ausgesehen, ja…aber sie ist kaum nach dem Anschluss oder so unter Menschen gekommen, die sich antisemitisch benehmen hätten können.
1/00:25:29
LSY: War deine Familie überrascht über die Reaktion der Österreicher, dass sie die Deutschen so begeistert aufgenommen haben?
TG: Ich war damals elf Jahre, wie ich Wien verlassen habe. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich kann nur meine persönlichen Gefühle erzählen. Zuerst haben wir, kann ich mich erinnern…an [Engelbert] Dollfuß und [Kurt] Schuschnigg, und die Parade auf der…wie hat die Straße geheißen…Mariahilfer Straße. Mein Onkel hat uns – mich wenigstens – geführt, diese Parade zu sehen, und auch wie Hitler durchgefahren ist, wollte er uns – oder mich – nehmen, um diesen ganzen truck zu sehen, aber meine Eltern haben das nicht erlaubt. Eigentlich, ich persönlich habe nicht darunter gelitten. Was dann meine Eltern anbetrifft, weiß ich nicht…ich weiß nur, man hat sie im 2. Bezirk, das man als Judenviertel benützt hat, bevor sie nach Theresienstadt gekommen sind…also bis sie nach Theresienstadt gekommen sind, habe ich durch das Rote Kreuz so kleine Briefe gekriegt…auf das Formular vom Roten Kreuz. Meine Mutter hat geschrieben auf der einen Seite, und auf demselben Zettel, oder was es auch war, konnte ich antworten, und das war postfrei.
Was meine Eltern eigentlich gelitten haben, weiß ich nicht. Ich habe probiert, es herauszufinden. Nach dem Krieg habe ich einen englischen Offizier, der im selben Dorf gewohnt hat…und er wurde nach Wien geschickt vom Militär aus. Und er hat probiert herauszufinden, was mit den Eltern eigentlich passiert ist. Und er hat Glück gehabt und hat mir erzählt, dass sie in Theresienstadt waren, dass sie Pakete gekriegt haben, und leider waren sie einige von den vielen Leuten, die auf dem letzten Transport von Theresienstadt nach Auschwitz ausgeliefert wurden – nur der Transport ist nie in Auschwitz gelandet. Die Leute sind unterwegs vergast worden. Mehr habe ich nie herausgefunden.
LSY: Und wie sind du und dein Bruder nach England gekommen?
TG: Wir waren damals elf Jahre, und zuerst hat er meine Schwester, die älter ist als wir…war…die ist leider verstorben. Mein Vater hatte eingereicht, dass wir Zwillinge entweder nach Frankreich oder nach England mit dem Kindertransport kommen können, und so mein Bruder, so auch ich, haben beide gesagt: „Nein, wir wollen nach England, weil da ist Wasser dazwischen.“ Und so sind wir nach England gekommen.
LSY: Und wo ist die Schwester hingekommen?
TG: Der channel zwischen Frankreich und England, wie nennt man das auf Deutsch?
LSY: Tunnel.
TG: Nein, heute gibt es einen Tunnel.
LSY: Kanal.
TG: Kanal.
LSY: Und die Schwester?
TG: Meine Schwester ist nach Palästina gekommen, mit der Jugend-Alija…in einen Kibbuz und arbeiten, hat geheiratet, hat zwei Kinder in die Welt gebracht. Ihr Mann ist vor ziemlich langer Zeit gestorben, und sie ist gestorben vor…das ist auch schon gute paar Jahre…auch leider eine von meinen Nichten…ist auch umgekommen.
1/00:31:34
LSY: Haben die Eltern auch versucht, Zertifikate für Palästina zu bekommen?
TG: Nein. Sie haben zu spät eingereicht. Meine Mutter hat immer Angst gehabt vor Dieben…und so wie alle jüdischen Frauen, was ich mich erinnern kann, die haben immer viel Schmuck getragen im Tempel, zu den Feiertagen. Meine Mutter hat nicht viel übergehabt für Schmuck. Das war hauptsächlich in der Bank. Und sie konnten das nicht anrühren, und auch die Ersparnisse…das ist alles auch…die SS, oder ich weiß nicht, die Nazis, auf alle Fälle ins Geschäft gekommen sind. Mein Vater durfte nicht einmal einen Pfenning rausnehmen von der Kassa. Er musste das Geschäft verlassen ohne etwas.
LSY: Kannst du noch ein bisschen erzählen von der ersten Zeit in England, wie das war, dahin zu kommen, in einer neuen Familie zu sein?
TG: Der Kindertransport war geteilt, Jungen und Mädchen separat in der Eisenbahn, bis wir angekommen sind in England…nein, in London schon, in Victoria Station…und da hat uns erwartet eine Frau mit dem Schild: Josef und Trude Deutsch. So hießen wir. Und da hat sie uns erklärt, mich hat eine Familie angefordert, und mein Bruder ist in ein Heim gekommen. Beide haben wir nicht gewusst, wo der andere hingekommen ist. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst…Zwillinge zu…teilen ist nicht--
LSY: --trennen.
TG: Auseinanderreißen…ich glaube, das war das Ärgste für uns beide. Wir hatten eine Bekannte von meinen Eltern, die nach England gekommen ist, um zu arbeiten, mit Arbeitszertifikat, mit ihrem Mann, und die hat herausgefunden, wo wir beide waren. Und sie hat arrangiert, dass mein Bruder und ich uns treffen. Und das war nach ziemlich langer Zeit. Nachdem ich bei einer Familie war, habe ich Taschengeld bekommen, sechs pennies.
1/00:35:19
[Übergang/Schnitt.]
Aber die Fahrt zu meinem Bruder hat neun pennies gekostet. Da konnte ich nur jede zwei Wochen ihn besuchen. Er hat kein Geld gehabt. Dort in dem Heim haben die Kinder kein Geld gekriegt. Und da habe ich ihm noch ein Geschenk gekauft, für zwei pennies, und einen penny habe ich aufgehoben und gespart für Weihnachten, dass ich der Familie, wo ich gewohnt habe, Geschenke kaufen kann. [Lacht.] Es klingt alles so ulkig. Einen penny sparen und zwei pennies für ein Geschenk.
LSY: Aber dann habt ihr euch öfters mal besucht?
TG: Mein Bruder ist einmal auf Besuch gekommen zu mir, und die sogenannte Pflegemutter hat gesagt, sie will nicht, dass er noch einmal kommt. Was war der Grund? – „Er ist ein Jude.“ Da sagte ich: „Und was bin ich?“ Ich bin anders. Mein Bruder hat dunkle Haare gehabt und herrliche blaue Augen, aber er war der Jude, und ich war anders. Also er durfte mich nicht besuchen.
LSY: Und nach dem Krieg seid ihr erstmal in England geblieben?
TG: Mein Bruder hat Tischlerei gelernt, bis er ins Militär gegangen ist, und er ist nach Europa geschickt worden – ich glaube, nach Belgien. Und ich habe mein Abitur gemacht, und dann bin ich in die Schwesternschule gegangen. Da haben wir uns schon öfter gesehen, weil ich war die Großverdienerin…ich habe Taschengeld gekriegt, als Lehrschwester. Wieso, weiß ich nicht, aber ich habe es bekommen. Und da bin ich zu Weihnachten zu ihm auf Besuch gefahren, aber sonst…bis wir wirklich erwachsen waren und er hat begonnen zu arbeiten, in London, und ich habe in London im Spital gearbeitet, da haben wir uns beinahe jede Woche sehen können.
LSY: Wie kam dann die Entscheidung, nach Israel zu gehen?
TG: [Lacht.] Ich war sehr verliebt in einen christlichen Rechtsanwalt, dessen Eltern nicht wissen durften verschiedene Sachen, zum Beispiel, dass ich nicht Engländerin bin, dass ich eine Jüdin bin und dass ich eine Krankenschwester bin. Das war unter ihrem Niveau, eine Krankenschwester. Und da habe ich beschlossen, ich habe so viele Jahre meine Schwester nicht gesehen, und sie hat schon ein Kind, und ich hatte etwas Geld…ich werde nach Israel kommen. Mein Freund hat mir ein halbes Jahr gegeben. Und ich habe angefangen, zu arbeiten im Spital, das eine Geburtsklinik war, und dann bin ich draufgekommen, eigentlich…was für ein Leben hätte ich, diesem Mann entgegen, oder für den Mann, dass man seine Eltern anlügen muss. Unsere ganze Ehe wäre eine Lüge gewesen. Und das ist nicht fair. Da habe ich beschlossen, ich bleibe in Israel. Ich habe Arbeit, ich habe genug Bekannte…die englischen Gruppen damals haben sich irgendwie gehalten, so wie eine Clique…und ich bin dageblieben, habe geheiratet.
LSY: So passiert, quasi?
TG: Ja.
1/00:40:51
LSY: Und wie war das, in den ersten Jahren hier und Hebräisch zu lernen? War das schwierig, sich einzuleben?
TG: Ich habe eigentlich nie Hebräisch gelernt, nur von meinen Kindern. Im Krankenhaus habe ich alles gewusst, was zu fragen und so weiter und mit den Ärzten auszukommen und was eigentlich mit einer Geburt zu tun hat. Mehr konnte ich nicht. Und dann von den Kindern habe ich Hebräisch gelernt. Ich mache noch immer Fehler. So wie mein großer Sohn sagt: „Meine Mutter spricht sehr viele Sprachen, aber keine richtig.“ Weil auch in Deutsch mache ich Fehler.
LSY: Naja, nicht wirklich.
TG: Ja, ich mache Fehler.
LSY: Ich habe es noch nicht gehört. [Beide lachen.] Hast du mit den Kindern dann deutsch geredet am Anfang?
TG: Mit den Kindern habe ich wegen meinem Schwager deutsch gesprochen, bis sie sich geweigert haben. Im Kindergarten ist das noch gegangen, aber es war schwer für die Kinder. Mein Mann hat nur hebräisch gesprochen mit den Kindern. Ich war diejenige, die deutsch gesprochen hat. Aber es hat ihnen nicht geschadet, im Gegenteil. Beide…mein großer Sohn war in Sinai und hat mit der האו"ם HaUm UN zu tun gehabt, mit den Soldaten von האו"םHaUm UN , die nicht alle Englisch konnten. Da hat er englisch, deutsch, mit denen irgendwie sich verständigt. Und mein kleiner Sohn, der Pilot ist und jetzt bei El Al arbeitet…das erste Mal, dass er nach Europa gefahren ist und ist über die deutsche Grenze gekommen, hat er sie begrüßt in Deutsch, und das war ein großer Fehler, weil er hat eine sehr grobe Antwort bekommen. [Lacht.]
LSY: Was haben sie gesagt?
TG: Ich kann mich nicht erinnern. Wir haben uns lustig gemacht darüber. [Lacht.] Er hätte klug genug sein müssen, zu wissen, die internationale Sprache bei Piloten ist Englisch und nicht Deutsch.
LSY: Dein Mann, war der Sabre [ein in Palästina oder Israel geborener Jude]?
TG: Nein, mein Mann war…mein Mann war ein komischer Mischling. Die Eltern waren aus Polen, sind aber nach Frankfurt ausgewandert, und seine Mutter war schwanger mit ihrem ersten Kind und wollte noch die Familie besuchen. Und mein Mann hatte scheinbar keine Zeit und ist auf die Welt gekommen in Polen. Jetzt in Polen, jüdische Ehe ist unehelich, wird nicht anerkannt. Das heißt, er ist außerhalb der Ehe geboren. Schrecklich. In Hebräisch ist er ein bastard. Ich weiß nicht, ob es sowas gibt in Deutsch.
LSY: Das sagt man auch.
TG: Auf alle Fälle, er ist eigentlich aus Frankfurt.
LSY: Er hat auch deutsch gesprochen?
TG: Wir haben nur deutsch gesprochen.
1/00:45:13
LSY: Und der Bruder ist in England geblieben, oder wo ist er hin?
TG: Mein Bruder ist nach Israel gekommen, um zu sehen, bevor er geheiratet hat, ob er dort ein Leben machen konnte…mit seiner Frau…ohne Frau, die ist in England geblieben. Und er hat gesehen, Israel ist kein Platz für seine Frau. Sie ist zwar eine Jüdin und von polnischen Eltern, aber irgendwie hat sie einen antisemitischen Begriff gehabt, oder wie man sagt, über Israel. Wenn sie auf Besuch gekommen ist nach Israel, sie war immer krank. – „Israel ist ein Land, wo man nicht auf Besuch kommen kann, weil es wirkt auf die Gesundheit.“
LSY: Also sind sie in England geblieben?
TG: Er ist zurück nach England, hat Glück gehabt, ist in einer sehr guten Firma aufgenommen worden und ist gestiegen und gestiegen, bis er nicht mehr steigen konnte. [Lacht.] Aber leider ist er mit 82 Jahren gestorben. Beide Kinder, meine Kinder und seine Kinder, haben mich gezwungen, ich muss nach England kommen zum 80. Geburtstag. Ich hatte die Fahrt frei – die Mutter vom Piloten. Wir sind beide nach England, nur für fünf Tage, Geburtstag feiern – 80. Geburtstag feiern. Da hatte er schon den ersten …אירוע מוחי [Hebr., Schlaganfall.]
LSY: Schlaganfall.
TG: Schlaganfall…gehabt, aber er war vollkommen in Ordnung. Und zwei Jahre danach ist er gestorben.
LSY: Warst du mal wieder in Österreich?
TG: Ja, zu meinem 60. Geburtstag. Mein großer Sohn und Frau haben mich wieder…es ist immer fünf Tage. [Lacht.] Wir sind für fünf Tage nach Wien gefahren, und mein Sohn hat den Michelin[-Reiseführer] von Wien gekauft und hat nicht einen Tagesplan gemacht, was wir alles besuchen werden, sondern einen Stundenplan. Glücklicherweise habe ich mir am Flughafen noch ein paar Turnschuhe gekauft, die ich in die Tasche stecken konnte, und sehr oft hättest du mich sehen können, auf der Straße sitzen, dass ich die Schuhe wechsle – so hat er uns getrieben. [Beide lachen.] Du lachst! Aber es war sehr schön. Und da ist etwas Ulkiges…es war Mozartwoche und einer von den Hofs…Höfe?
LSY: Von den Höfen.
TG: War ein Konzert, ein Mozartkonzert, und vom Hotel hat man uns Plätze bestellt und hat uns am Abend ein Taxi bestellt. Da war eine…Chauffeuse sagt man?
LSY: Ja.
TG: Und die hat…ich bin vorne gesessen…und die hat mit mir gesprochen, und ich habe gebeten: „Sprich ein bisschen langsamer, ich bin nicht von Wien. Mein Deutsch ist nicht so gut.“ Und wie wir ausgestiegen sind, sagt mein großer Sohn: „Mutti, ich verstehe dich nicht. Ich habe jedes Wort verstanden.“ Er hat alles verstanden, ich nicht. [Lacht.]
1/00:50:14
Aber wir hatten eine sehr, sehr schöne Zeit in Wien. Ich war dann noch einmal. Ich wurde eingeladen von irgendeiner Gesellschaft [meint: Jewish Welcome Service] – nicht nur ich. Wir waren eine Gruppe von zwölf Leuten, glaube ich, oder was. Also Hotel und Reise und alles war bezahlt. Und es waren auch organisierte Touren und so weiter, die ich mich geweigert habe, mitzumachen, weil ich wollte Alt-Wien wiedersehen, und bin alleine losgezogen und habe Wien, wie es mal war, wenn es nicht bombardiert wurde, gesehen. Ich habe mich nur einmal verirrt. Ich habe nicht gewusst, wie man rauskommt. [Lacht.] Ich war begeistert über die alte Architektur, vom Stephansdom, verschiedene Plätze, hauptsächlich mit Kunst oder Architektur…dass ich diese Woche, wo ich eingeladen war, wirklich nur zu wichtige Sachen, so wie Freitagabend in die Synagoge zu gehen und nachher Abendbrot essen…das war das einzige, was ich mit ihnen mitgemacht habe. Ich war in der Oper, ich war zum Konzert…ich habe alles besucht, was ich wollte.
LSY: Also würdest du sagen, du hast noch eine Verbindung zu Wien?
TG: Nein, nein. Ich habe wirklich Wien besucht wie eine Ausländerin…ein fremdes Land, eine fremde Stadt. Und vielleicht ist das zu verstehen. Ich habe mich geweigert, deutsch zu sprechen. Ich habe nur englisch gesprochen. Ich bin auch gefahren mit dem englischen Pass.
LSY: Das erklärt es. [Pause.] Also würdest du sagen, dass du dich heute voll und ganz als Israeli fühlst, oder ist da auch noch was Englisches?
TG: Wenn ich nicht ganz Israeli bin, dann würde ich sagen, ich habe ein bisschen von England abgekriegt, aber absolut nichts von Österreich.
[Übergang/Schnitt.]
Die Erinnerungen…vergiss eines nicht: Ich war elf Jahre, wie ich Wien verlassen habe. Das sind Jahre für Kinder, die sehr impressive sind, sehr…und die man nicht vergisst, und ich glaube, man soll sie auch nicht vergessen. Vielleicht…das ist meine Anschauung. Jeder Mensch hat eine andere Anschauung.
LSY: Also gibt es auch so viele negative Erinnerungen?
TG: Die negative Erinnerung ist hauptsächlich nicht persönlich, sondern meinen Eltern gegenüber. Das muss ich dir noch erzählen. Mein Vater…ich weiß nicht, wo er mich mitgenommen hat…ich weiß, wir sind zu Fuß irgendwo hingegangen und ein SS-Offizier hat uns aufgehalten. Ich habe schreckliches Herzklopfen gekriegt, und er war sehr höflich und hat nur gesagt: „Wo ist euer Kreuz?“ Und mein Vater war so schlagfertig, dass er mit der Hand gemacht hat: „Ich habe die Jacke gewechselt. Das muss auf der anderen Jacke geblieben sein.“
1/00:55:25
LSY: Sehr mutig.
TG: Mein Mann…mein Vater hat überhaupt nicht jüdisch ausgesehen, und ich war blond, und meine Nase war auch nicht so groß. [Lacht.] Also konnte man mich wirklich als Arierin annehmen.
LSY: Gut, vielen Dank!
TG: Jetzt hast du alle meine Geheimnisse. [Beide lachen.] Das ist das erste Mal, dass ich über meine Jugend gesprochen habe bei einem Interview.
LSY: Wirklich?
TG: Man hat mich schon tausendmal interviewt, auch ein deutscher Korrespondent, und das Ende war…er hatte Theologie studiert, und er ist bei mir gesessen…ich wollte beinahe sagen die halbe Nacht, aber das stimmt nicht. Aber drei Stunden bestimmt, und wir haben hauptsächlich diskutiert. [Lacht.]
LSY: Seid ihr gar nicht zu seinen Fragen gekommen?
TG: Was er geschrieben hat in seiner Zeitung, weiß ich nicht. [Beide lachen.]
LSY: Na dann fühle ich mich geehrt, dass du mir etwas über deine Kindheit erzählt hast.
TG: Aber ich bin sehr oft fürs Heim interviewt worden, weil ich…wie ich gekommen bin, war ich eine von den jüngeren Leuten und auch durch meine Arbeit vom Technion, wo ich mit Professoren und weiß Gott was zu tun hatte. Mir fällt es nicht schwer, zu sprechen. Man hat mich immer…ich habe enorm viel Reklame gemacht, in Englisch oder in Deutsch, und man hat mich auch gefilmt. Also ich kann sagen, ich bin ein Filmstar. [Beide lachen.]
[Ende des Interviews.]