Charlotte | Bamberger |
Charlotte Bamberger wurde 1904 als Charlotte Hammerschlag in Wien geboren und besuchte die Schwarzwaldschule. Sie begann im Alter von acht Jahren Geige zu spielen und studierte von 1918 bis 1925 an der k. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst. 1936 wurde sie vom Palästinensischen Symphonischen Orchester als Bratschistin engagiert und zog deshalb nach Palästina. Aufgrund des ,Anschlusses’ kehrte sie 1938 nicht nach Wien zurück, sondern folgte ihrem Mann in die USA, wo sie eine erfolgreiche Karriere als Musikerin einschlug. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte Bamberger in New York City. |
Vollständiges Interview
Teil 1 |
in chronologischer Reihenfolge
Teil 1
CK: Das ist Band 1 und erste Seite des Interviews mit Frau Lotte Bamberger, aufgenommen am 26. Juni 1996 in ihrer Wohnung in Manhattan, New York. Könnten Sie mir etwas über Ihre Jugend erzählen? Wo und wann sind Sie geboren?
CB: Ich bin geboren – es ist sehr lange her – 1904 in unserer Wohnung in Wien, Universitätsstraße 11. Und ich bin dort aufgewachsen und habe dort gelebt, bis ich im Jahr [19]36 nach Israel gegangen bin. Dort wurde das Orchester gegründet, das Israel [Philharmonic] Orchestra. Ich wurde engagiert von [Bronislaw] Huberman und [William] Steinberg. Huberman hat das gegründet, und Steinberg hat es dirigiert. Ich kann aber nicht gleich im Jahr 1936 anfangen. Ich sage nur, dass ich bis dahin in Wien gelebt habe. Und dann habe ich eigentlich eine sehr schöne Jugend in Wien verbracht. Man muss ja in Wien eine schöne Jugend haben. Ich bin in die Schule gegangen in Wien, in die Schwarzwaldschule. Haben Sie die gekannt?
CK: Ich habe davon gehört, ja.
CB: Und ich war in der Volksschule noch ganz gut, und dann wurde ich immer schlechter. [Lacht] Ich habe immer nur Nichtgenügend und Genügend gehabt, und da hat man dann beschlossen, dass man mich in die Musikakademie gibt, weil ich da günstigere Resultate gehabt habe. Und da war ich, glaube ich, sechs oder sieben Jahre an der Akademie. Und während ich aber noch an der Akademie war, im letzten Jahr, bin ich in ein Quartett eingetreten…vier Damen. Und ich war da ein paar Jahre, vielleicht drei Jahre oder was. Und da sind wir auch ein bisschen herumgereist, in Deutschland, und da habe ich zweite Geige gespielt. Dann hat die Bratschistin geheiratet, und ich habe mir gedacht, es ist viel interessanter, Bratsche zu spielen als zweite Geige, und habe umgesattelt, auf Bratsche.
CK: Haben Sie das auch studiert auf der Musikakademie?
CB: Ja. Und ich war dann noch die paar Jahre in dem Quartett, und dann bin ich aber in ein anderes übersiedelt, das mir noch lieber war. Es waren vier junge Mädchen, und wir haben sehr viele Tourneen gemacht: in Italien, in Spanien, in Norwegen, in England, in Schweden. Es war wirklich wunderbar. Und das hat sich so hingezogen bis in die [19]30er-Jahre. Das Ganze hat angefangen…wir waren alle ungefähr in den zwanziger Jahren. Ich habe in der gleichen Zeit auch in Wien gespielt. Ich habe zweimal solo gespielt, einmal mit Orchester, mit dem Jakob Gimpel, das Symphoniekonzertant von Mozart, und einmal allein eine, mit einem Kammerorchester. Mein Mann hat es orchestriert. Und das habe ich ohne Dirigenten selbst dirigiert. Das war eigentlich eine der größten Freuden für mich. Und das war auch sehr gut. Das war dann schon in den [19]30er-Jahren. Und dazwischen habe ich in Wien gespielt…privat, Kammermusik und in einem Orchester, das gegründet wurde. Kennen sie den Namen Herbert Zipper?
CK: Nein, leider nicht.
CB: Nein? Das wundert mich. Hauptsächlich habe ich aber Kammermusik gespielt und Reisen gemacht. Es war eigentlich dann immer dasselbe, bis zum Jahr [19]36, wo ich nach Israel ausgewandert bin. Da habe ich Probe gespielt und bin engagiert worden und bin im Jahr [19]36 im September nach Tel Aviv übersiedelt. Im Juni haben wir geheiratet, bevor ich weg bin. Und mein Mann blieb aber in Wien. Er wollte nur, dass wir, bevor ich da wegreise, heiraten. Und da kam ich im [19]37er-Jahr im Sommer zurück auf Urlaub. Ich war in Salzburg und habe auf den Dolomiten eine Tour gemacht. Und im Herbst 1937 bin ich wieder zurück und wollte [19]38 wieder nach Wien zurück…hätte die Absicht gehabt. Einige vom Orchester sind weg. Das war natürlich unmöglich. Und da bin ich direkt hierher, nach Amerika, im Juni [19]38.
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Und mein Mann war schon da, weil er zufälligerweise – glücklicherweise – im Jahr [19]37 von einem Freund eingeladen wurde hierherzukommen. Und dann blieb er natürlich hier. Also wir beide haben wirklich, wie man sagt, mehr Glück als Verstand gehabt, dass er im Jahr [19]37 und ich im Jahr [19]38 direkt hierhergekommen sind. Und hier habe ich mich wahnsinnig schnell eingelebt. Ich bin im Juni angekommen und habe dann im September schon ein Engagement in einem Orchester bekommen, das frisch gegründet wurde.
Aber ich will noch einiges über Palästina erzählen, also damals war es Palästina. Es war wirklich eines der schönsten Erlebnisse, dieses eine Jahr oder diese zwei Jahre. Die Konzerte wurden eröffnet von [Arturo] Toscanini. Der hat die ersten zwei Konzerte dirigiert. Das war sehr aufregend, natürlich. Und dann waren verschiedene…wer ständig dirigierte, war Steinberg…und dann waren sehr viel Gastdirigenten und sehr gute Solisten. Und das war wirklich wie ein neues Leben dort. Wir waren das erste Orchester in Israel – oder damals Palästina. Und das war…wir waren eine kolossale Sensation und sind herumgefahren, nach Haifa und Jerusalem. Wir haben Konzerte immer wiederholt dort. Es war nicht sehr gemütlich, damals herumzufahren in die verschiedenen Städte, denn man wusste nie, ob die Araber schießen werden oder nicht. Aber wir gewöhnliches Volk vom Orchester sind in normalen Autobussen gefahren. Toscanini aber ist im Panzerwagen gefahren. Und es ist aber wirklich nie etwas passiert, Gott sei Dank. Und das war also wirklich dieses Jahr ganz besonders, das erste Jahr. Die Sensation des Orchesters…es war ein ausgezeichnetes Orchester, wirklich sehr gut. Es waren die besten Leute von Europa, die ausgewandert sind oder wegmussten. Und ich wurde als assistant first viola engagiert, am ersten Pult als zweite. Und ich habe das genossen in vollen Zügen. Das war eine große Angelegenheit für mich…und furchtbar nette Kollegen. Wir hatten, wie man sagt, eine grand time. Das waren also zwei Jahre. Und dann, wie gesagt, wollte ich zurück, oder...wir konnten gar nicht mehr zurück. Und da sind wir dann hierher, einige Kollegen und ich. Mein Mann war schon da. Da haben wir eine kleine Wohnung genommen, zwei Zimmer, eine Küche, die war so winzig, aber es ging wunderbar.
CK: Wo war das?
CB: Das war in der 73. Straße, hier, West. Und da sind alle…damals, das waren die schönsten Jahre, die [19]39er- und [19]40er-Jahre, weil…alle waren refugees. Keiner war irgendwie besonders oben oder unten. Es waren alle gleich. Und alle möglichen Leute sind zu uns gekommen: [Artur] Schnabel und der [Otto] Klemperer und der [unklar]. Und es war wirklich die ersten Jahre hier fabelhaft. Und da war dieses freie Leben. Man hat sich doch nicht gefürchtet damals. Ich habe sehr viel Show und Ballett gespielt.
CK: Für Sie war es kein Problem, eine Beschäftigung zu finden?
CB: Das war…damals war es noch nicht so überfüllt mit Musikern. Das war in den Jahren [19]38, [19]39, [19]40. Damals war das noch nicht so wahnsinnig überfüllt. Und da habe ich sehr viel zu tun gehabt. Ich habe in diesem Orchester, das hat geheißen New Friends of Music…das hat der [Joseph] Szigeti dirigiert, und auch der [unklar] und der Klemperer ein paarmal. Und dann kamen andere Engagements dazu, ein Radioengagement, eine Radiostunde – Selanis Hour hat es geheißen und war sehr gut bezahlt. Und daneben habe ich sehr viel eben Show und Ballett gespielt. Wir haben die erste Aufführung von On The Town von [Leonard] Bernstein gemacht, mit ihm als Dirigenten. Das war auch sehr schön und aufregend. Und dann ging das in der Art weiter. Da habe ich dann sehr viel am Broadway gespielt.
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CK: Bei Musicals oder bei Ballettaufführungen?
CB: Ja.
CK: Kann man sagen, es hat einen Schwerpunkt gegeben?
CB: In der Zeit am Broadway? Eigentlich nicht, nein. Es war die Premiere…die Erstaufführung von On The Town war sehr hübsch und interessant. Ich finde ja immer noch, dass das eine der besten Sachen ist von Bernstein. Und…können Sie einen Moment abstellen?
CK: Sie können ruhig auch Pausen machen, wenn das Band weiterläuft. [Pause.]
CB: Ich war dann einige Sommer in Marlboro, bei [Rudolf] Serkin.
CK: Da hat es ein Festival [Marlboro Music Festival] gegeben, oder?
CB: Ja. Da habe ich einige Sommer gespielt…Kammermusik und so, Orchester. Da war auch…der [unklar] hat dirigiert, und die Blanche Maurice hat dirigiert. Und dann habe ich sehr viel Kammermusik gespielt.
CK: Welche Kammermusik, von welchen Komponisten?
CB: Eigentlich hauptsächlich klassisch: Mozart, Brahms, Beethoven…damals. Das war auch der Anfang. Ich habe noch angefangen, in Marlboro zu spielen, wie der [Adolf] Busch noch da war…wie es begonnen hat. Wie der Adolf Busch noch gespielt hat und dabei war in Marlboro. Und dann war ich ein paar Jahre krank. Ich habe dann nicht gespielt ein paar Jahre. Und wie ich zurück kam, habe ich wieder weitergespielt…Orchester, Brooklyn [Philharmonic] Symphony [Orchestra]…und so kleine Sachen. Die waren freelancing. Ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern, was es war…habe ich als Freelancerin bekommen. Und dann habe ich aber vorher…ich muss jetzt zurückgreifen…nachdem ich zurückkam aus Israel, habe ich ein oder zwei Konzerte gehabt mit dem Adolf Busch.
CK: In Wien?
CB: Hier! Im Jahr [19]40 oder was. Da war der Bratschist gestorben, und er hat schnell jemanden gebraucht, und da bin ich eingesprungen. Das war wunderbar. Ich meine, es war ein großes Erlebnis, mit Busch zu spielen. Das können Sie sich nicht vorstellen. Und dann habe ich ein paarmal, eine Zeit lang, mit dem Felix Galimir Quartett gespielt, aber dann konzertierender Weise eigentlich weniger…sondern hauptsächlich privat. Ich war dann am Mannes College [of Music], da habe ich unterrichtet, Kammermusik und Bratsche. Und…was war denn dann? Es ist so schwer, das Ganze zu wiederholen. Es ist schon so lange her.
CK: Welche Zeit war das, als Sie unterrichtet haben?
CB: Das war…also die Kammermusik mit Busch und Galimir war in den [19]40er-Jahren…sehr bald, nachdem ich hierhergekommen bin. Und dann…was habe ich denn dann noch gemacht? Hauptsächlich Orchester…da war die Brooklyn Symphony mit Bernstein, und…so richtig freelancing…verschiedene Sachen, wo man gerade engagiert wurde.
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CK: Können wir vielleicht nochmals nach Wien zurückkommen? Haben Sie zu Hause auch schon ein Instrument gelernt?
CB: Ich habe mit acht Jahren angefangen, Geige zu lernen.
CK: Haben Sie eine Privatlehrerin gehabt?
CB: Natürlich, ja. Und ich kam dann erst nach ungefähr sechs Jahren…mit acht Jahren habe ich angefangen, mit vierzehn kam ich in die Akademie, weil sich doch gezeigt hat, dass ich in der Musik mehr erreichen werde als in der Schule.
CK: Mit vierzehn Jahren sind Sie in die Musikakademie gekommen?
CB: Und da war ich bis ungefähr 21.
CK: Und wer war Ihr Lehrer in der Musikakademie?
CB: Der [Franz] Mairecker und der [Julius] Stwertka…werden Sie nicht kennen. Leider Gottes…naja. Und dann habe ich aber in Wien gelernt bei der Frau [Rosa Hochmann-]Rosenfeld. Das war eine Privatlehrerin, die nur zum Vergnügen unterrichtet hat, und sie war auch die Lehrerin von der Erika Morini. Sie wissen ja, wer das war.
CK: Ja, vom Namen her.
CB: Und bei der habe ich eigentlich erst so richtig gelernt…wirklich spielen. Und ich habe dann hier in Wien schon mit der Erika Morini Quartett gespielt. Und hier haben wir dann privat bei ihr…ab und zu, da war eine bestimmte Gruppe, die Anette Levi und ihr Mann, der Bill Harry und die Erika und ich…haben wir ziemlich regelmäßig Quartett gespielt. Das ist eigentlich wirklich eine der schönsten Sachen gewesen, die ich erlebt habe. Denn sie ist ja für mich immer noch die größte Geigerin. Und sie hat Quartett erst…das war noch unbekannt, und das ist für sehr viele neu gewesen. Aber das war unwahrscheinlich manches Mal, wie herrlich das war. Das war eine der schönsten Erinnerungen. Das war noch…das war hier.
CK: In Wien haben Sie auch schon mit ihr zusammengespielt?
CB: In Wien haben wir ein paarmal gespielt, ja. Aber richtig erst dann regelmäßig hier.
CK: Wie hat Ihr Orchester geheißen in Wien, in dem Sie zum ersten Mal gespielt haben?
CB: Das war das [Wiener] Konzertorchester. Das ist von zwei jungen Männern gegründet worden. Da hat mein Mann dirigiert…und andere Leute dirigiert. Und da habe ich eben auch mit dem Jakob Gimpel gespielt, die Symphoniekonzertanten. In Wien habe ich wenig Orchester gespielt, da hab ich mehr Quartett gespielt. Und da war ich eben in den zwei Streichquartetten, besonders im zweiten. Und das war besonders schön, weil wir so schöne Tourneen gehabt haben. Und damals waren wir noch jung, und da haben wir in Spanien 24 Konzerte gehabt, in 31 Tagen. Und da ist man in der Nacht gefahren…keine Rede von Schlafwagen natürlich…erste Klasse haben wir uns ausgestreckt auf den Sitzen. Zwei waren größer und zwei waren kleiner, das ist ganz gut gegangen, und sind so...diese 31 Tage haben wir durchgelebt. Und wir haben also ganz wunderbar Spanien gesehen.
CK: Das war noch in den [19]20er-Jahren?
CB: Das war in den [19]30er-Jahren…Anfang [19]30er-, Ende der [19]20er-Jahre. Und es fallen einem erst dann wieder Sachen ein, wissen Sie? Etwas habe ich mir gerade überlegt…von hier auch. Jetzt muss ich einen Moment nachdenken…ist es abgestellt?
CK: Nein, es kann ruhig weiterlaufen.
CB: Das macht nichts?
CK: Ich transkribiere das, dann ist es schriftlich.
CB: Ich wollte etwas von hier noch erzählen, und jetzt fällt es mir nicht ein…Erika Morini und…es war auch nicht so viel anders. Ich war ja zu der Zeit sehr beschäftigt, mit Orchester. Wir haben eine Show gehabt, Selanis Hour. Da haben Pierce und der Robert Wiege gesungen. Das war wunderbar…Operetten und Opern, und ich war erste Bratsche. Und da hat ein Kollege mich gefragt…wir haben sehr gut bezahlt bekommen, und da hat ein Kollege mich gefragt, wieviel Uhr es ist. Da habe ich gesagt: „Sieben Minuten vor 72 Dollar.“ [Beide lachen.] So haben wir damals gelebt. Das war ja noch in den ersten Jahren hier.
1/00:21:11
CK: Ist es dann in den späteren Jahren schwerer geworden, Engagements zu bekommen?
CB: Ja, ich habe…ich weiß schon, was ich sagen wollte. Es fällt mir jetzt gerade wieder ein. Ich war…nein, das habe ich schon gesagt…viele Jahre in Marlboro. Das habe ich schon erwähnt. Es war natürlich später viel schwerer, aber ich habe immer zu tun gehabt, eigentlich. Ich habe immer irgendwas zu tun gehabt. Dann habe ich viele Jahre in der Metropolitan [Opera] substituiert. Das war sehr lustig, eigentlich. Ich habe ganz selten geprobt, und manchmal bin ich hingekommen und habe einfach eine Oper spielen müssen, ohne sie zu können. Da habe ich unter [Herbert] Karajan gespielt. Das war herrlich, das war wunderbar. Die Walküre und Das Rheingold…das war ganz herrlich, und ich habe das enorm genossen. Er war wirklich, muss ich sagen, ganz großartig als Dirigent. Man hat das Gefühl gehabt, dass er einen dirigiert, nicht nur das ganze Orchester…sondern wenn etwas wichtig war, hat er plötzlich geschaut und hat nur eine Bewegung gemacht. Man hat das Gefühl gehabt, es geht zu einem persönlich. Das war wirklich fabelhaft. Da habe ich ein paarmal substituiert, mit dem Karajan zweimal oder dreimal. Sonst habe ich ein paar Jahre lang ziemlich viel substituiert…viele Opern gespielt. Manchmal habe ich eine Oper geprobt und eine andere gespielt. [Lacht.] Was wollen Sie noch wissen?
CK: Können Sie etwas über Ihre Familie erzählen, Ihren Vater, Ihre Mutter?
CB: In Wien? In Wien war ich die Jüngste von sechs Kindern. Meine Eltern sind im Jahr [19]34/35 gestorben. Und dann habe ich zu Hause…von meinen Schwestern waren auch schon zwei nicht mehr am Leben. Meine andere Schwester ist nach Paris und hat dort geheiratet. Ein anderer Bruder hat in Wien geheiratet. Und da war ich dann in der Wohnung allein mit meinem Bruder, bis ich nach Israel gegangen bin. Wir hatten eine…mein Vater war Arzt, ein sehr bekannter Diagnostiker und wirklich wunderbarer Arzt. Wir waren sechs Kinder, zwei Eltern, ein Kinderfräulein, ab und zu eine Engländerin oder eine Französin, Köchin und Stubenmädchen, und was man so gehabt hat. Unsere Wohnung hat, glaube ich, vierzehn Zimmer gehabt.
CK: Vierzehn Zimmer?
CB: Naja, das war zusammen mit der Ordinationswohnung von meinem Vater. Das war in einem. Damals hat man kein office gehabt. Das war meistens in der Wohnung.
CK: Das war in der Universitätsstraße? Die ist hinter der Universität?
CB: Ja. Das war das Ende der Universitätsstraße, Ecke Landesgerichtsstraße. Universitätsstraße 11. Es war das Eckhaus. Da habe ich eigentlich wirklich eine schöne Jugend gehabt. Ich habe immer viele Menschen um mich gehabt…fünf Geschwister…wie ich noch klein war. Ich habe also dort gelebt, was hier gar nicht vorkommt, bis zum Jahr [19]36, bis ich 32 war. Das kommt ja hier gar nicht vor. Hier zieht man ja jeden Moment um. [Lacht.]
1/00:25:14
CK: Wie haben Ihre Geschwister geheißen?
CB: Der Älteste war Ernst, dann kam Käthe, Else, Paul, Gertrud und Lotte. Alle sind sie ein Jahr hintereinander gewesen, nur ich habe fünf Jahre gewartet.
CK: Sie waren die Jüngste?
CB: Ja. Keiner lebt mehr. Zwei Neffen habe ich von meiner Schwester, und Nichten von meinem Bruder. Die Neffen sehe ich ab und zu, die leben hier in New York.
CK: Und Ihre Geschwister konnten auch aus Wien fliehen?
CB: Meine Schwester und mein Bruder sind hierhergekommen und mein anderer Bruder auch. Sie sind beide hier gestorben…meine Schwester auch. Und die anderen haben nicht mehr gelebt, die zwei anderen. Von meinem Mann wollten Sie noch etwas wissen?
CK: Ja. Wann haben Sie Ihren Mann kennengelernt?
CB: Wann? Ich habe ihn kennengelernt, da war ich, glaube ich, sechzehn…ungefähr. Aber geheiratet haben wir, wie ich 32 war. Wir haben sehr lange gewartet. Und dann haben wir uns hier eben wieder getroffen. Er hat sehr viel in Russland dirigiert, wie es noch möglich war…in den [19]30er-Jahren. Und in Wien auch verschiedene…dann war er…einige Jahre in Danzig, als Kapellmeister, und einige Jahre in Darmstadt. Und er kam dann wieder nach Wien zurück. Er war dazwischen in Russland, ab und zu. Und dann kam er eben im Jahr [19]37 hierher. Und sein Vater war ein sehr bekannter Möbelhändler in Wien, hat meine Wohnung eingerichtet, wie ich noch nicht geboren war. Komischerweise hat sich das zufällig ergeben.
CK: Die Wohnung in Wien?
CB: Die Wohnung? Die gibt es noch. Ich meine, die gibt es eigentlich nicht mehr. Ich war in Wien, zweimal, von hier aus…und bin zur Wohnung gegangen. Ich wollte sie nochmal sehen. Da war eine Sprachschule dort. Und es war kein Mensch da. Ich bin hineingegangen. Und wir hatten ein riesiges Speisezimmer. Die Wohnungen waren ja ganz anders wie hier. Und das war so eingeteilt in kleine Schulräume, ich habe mich gar nicht mehr ausgekannt. Nur am Plafond habe ich mich ausgekannt, welche Stuckatur war in welchem Zimmer. Es war eine riesige Wohnung. Und da kam plötzlich jemand und hat mich gefragt, was ich da mache. Da habe ich gesagt: „Ich habe mal hier gewohnt und wollte das sehen.“ Aber ich möchte immer…immer wäre ich noch gern einmal nach Wien. Ich liebe es ja. Es ist ja so eine herrliche Stadt. Aber jetzt kann ich nicht mehr fahren.
CK: Wann waren Sie das letzte Mal in Wien?
CB: Wann war ich das letzte Mal in Wien? Wenn ich das nur wüsste. Es ist sehr, sehr lange her. Das muss in den [19]70er-Jahren gewesen sein…sehr lange her.
CK: Waren sie öfter in Wien nach 1945?
CB: Zweimal…von hier aus.
CK: Das erste Mal?
CB: Das erste Mal weiß ich nicht, wann das war, aber sehr, sehr lange her. Ich habe bei einer Freundin gewohnt, die Cellistin war im Quartett. Wir waren sehr gut miteinander. Und da war ich einmal in der Oper in Wien damals. Und ich hatte das gar nicht in Erinnerung, es kam mir so klein vor, gegenüber hier. Ich hatte das gar nicht so in Erinnerung. Für mich war die Wiener Oper etwas sehr Großes. Aber im Vergleich zu hier war sie ganz klein. Und immer wenn ich am television, im Fernsehen, den Wiener Musikvereinssaal sehe, also zum Beispiel zu Neujahrskonzerten oder so, werde ich ganz sentimental. Ja, dort habe ich meine Jugend verbracht, mehr oder weniger. Ich habe alle Konzerte gehört. Ich habe gedacht, ohne mich geht es nicht.
1/00:30:46
CK: Sind Sie dort mit Ihren Eltern hingegangen?
CB: Nein, da war ich eigentlich mehr mit meiner Schwester oder mit meinem Mann, der damals noch nicht mein Mann war…oder allein. Eine geniale Tat: Ich habe mich hineingeschwindelt, zur Premiere von Die Frau ohne Schatten. Wie, weiß ich nicht mehr…ich war plötzlich im Stehparterre. Und nicht nur das: Damals gab es im Stehparterre noch keine Damen. Und ich weiß, ich war ganz jung. Ich habe da einen Herrn gebeten, wie der Mann mit dem Wasser gekommen ist: „Stellen Sie sich vor mich, damit man mich nicht sieht.“ Aber ich habe die Premiere gehört, und das hat mir genügt. Das war ja eine Frechheit, aber…ich weiß auch gar nicht mehr, wie ich da hineingekommen bin.
CK: Haben Sie keine Karten mehr bekommen?
CB: Ach, die Premiere von Die Frau ohne Schatten! Ich bin ja meistens in die Oper mit Stehplatz gegangen…und auch bei Konzerten. Ich habe eigentlich nie einen Sitzplatz gekauft. Nur im Musikvereinssaal bin ich dann in die erste Loge. Da war ein Diener, dem habe ich eine Krone oder einen Schilling gegeben, und dann hat er mich drin gelassen. Aber ich muss sagen, ich habe wirklich die schönsten Sachen als Kind gehört, als junges Mädchen: Bruno Walter, [Wilhelm] Furtwängler…alle schönen, großen Konzerte.
CK: Ist Ihnen irgendetwas Besonders in Erinnerung geblieben?
CB: Eigentlich hauptsächlich Furtwängler. Wenn ich heute eine Platte höre, glaube ich, dass ich erkenne, dass es Furtwängler ist. Ich habe es zumindest einmal erkannt, weil es so einmalig war, und so anders. Sie haben ihn ja nie mehr gehört.
CK: Nein, leider nicht.
CB: Natürlich, Sie sind ja viel zu jung. Ja, das war schon fabelhaft…und Bruno Walter, Matthäus-Passion, das war die Sensation. Wenn ich mir denke, wie die jungen Leute hier ins Konzert gehen, in Blue Jeans und alten Hemden und so…ein Konzert war für mich eine Sensation. Da hat man sich schön anziehen müssen und schön frisieren müssen. Dann hat man es wirklich genossen.
CK: Es war etwas Festliches.
CB: Ja. Einmal habe ich mitgesungen, da war ich im Philharmonischen Chor. Da hat der [Paul von] Klenau eine Aufführung gemacht, im Großen Konzerthaussaal, den Orpheus von Gluck. Und da habe ich im Chor gesungen und war eine Furie. Ich war also selig darüber, dass ich mich raufen konnte und einen Kittel anziehen…das war wirklich ein sehr, sehr großer Eindruck für mich. Ich war damals vielleicht achtzehn Jahre oder so etwas, ich weiß nicht. Da habe ich auf der Bühne mitgespielt. Es gibt so Sachen, die einem unvergesslich sind.
CK: Haben Sie sich damals auch für zeitgenössische Musik interessiert, wie [Arnold] Schönberg?
CB: Eigentlich wenig. Ich habe es offen gestanden nicht sehr verstanden. Ich war nicht in der Gruppe, die so ganz in die Moderne hinein sind…Schönberg und [Alban] Berg. Obwohl ich jetzt zum Beispiel Berg und [Anton] Webern sehr gerne habe…sehr gerne. Bei Schönberg habe ich immer noch ein bisschen Schwierigkeiten. Komisch, weil Berg und Webern sind mir eigentlich ganz vertraut. Man hat ja in Wien bis auf diese Gruppe, die moderne Musik gespielt hat, sehr wenig moderne Musik gespielt. Es war immer mehr klassische Musik.
CK: In der Staatsoper hat man ja auch [Ernst] Krenek aufgeführt…Jonny spielt auf.
CB: Ja, das schon. Und...wie heißt das schnell von Alban Berg…Wozzeck. Da hat der [Friedrich] Buxbaum – haben Sie den Namen Buxbaum gekannt? Das war der erste Cellist von den [Wiener] Philharmonikern, der war doch immer so wahnsinnig witzig. Und der hat immer gesagt, beim Wozzeck: „Nach dem ersten Akt werden frische Freikarten ausgegeben.“ [Beide lachen.] So war man damals eingestellt zur modernen Musik.
1/00:35:43
CK: Hat man das auch mitbekommen, diese Krawalle, die es manchmal bei Konzerten gegeben hat?
CB: Ja, das gab es auch. Aber da war ich nicht dabei. Ich war kein Revolutionär. Tut mir leid, ich kann…was wollen Sie noch wissen?
CK: Sie haben Ihren Mann auf der Musikhochschule kennengelernt?
CB: Nein. Mein Mann war der Bruder einer Schulkollegin von mir. Mit der war ich befreundet, und da kam ich ins Haus. Und da geschah das Unglück. [Lacht.]
CK: Die Schulkollegin von der Bürgerschule--
CB: --Schwarzwald--
CK: --von der Schwarzwaldschule. Damals war noch die Eugenie Schwarzwald Direktorin?
CB: Ja, ja. Das war eine der wirklich großartigsten Frauen, die es gegeben hat. Die hat…von einer Energie und was die da geleistet hat, war unglaublich. Und im Krieg hat sie Gemeinschaftsküchen gemacht, Erholungsheime für junge Leute, im Sommer. Kolossal! Ist eine fabelhafte Frau gewesen. Es gibt ja auch ein Buch über sie von der Frau vom [Carl] Zuckmayer. Das heißt…das ist nach einem Zitat, was sie dem…sie hat den [Oskar] Kokoschka sehr propagiert. Da hat sie immer eine Geschichte erzählt, oder man von ihr, dass sie den Kokoschka als Lehrer engagiert hatte, als Zeichenlehrer. Und da ist sie einmal zum…wie nennt man das…Schulrat gerufen worden, und da hat man ihr gesagt: „Sie können den nicht engagieren. Der hat keine licence, keine Bewilligung zum Unterrichten.“ Da hat sie gesagt: „Aber Herr Direktor, der Mann ist ein Genie!“ Und da hat er gesagt: „Genies…“ Oh Gott, jetzt fällt mir das nicht ein. Er hat gesagt: „Genies können wir im Lehrplan nicht verwenden.“ So etwas in der Art.
CK: Das hat die Eugenie Schwarzwald in der Klasse erzählt?
CB: Das hat sie wirklich erlebt, im Unterrichtsministerium. Nein, so hat er gesagt: „Genies sind im Lehrplan nicht inbegriffen [meint: vorgesehen].“ So hat sie gesagt. Und darüber hat auch die…so heißt das Buch von der Frau [Alice Herdan-]Zuckmayer, das sehr gut ist und hauptsächlich von der Frau Schwarzwald spielt. So schreibt sie…ausgezeichnet. Ich habe sie als Schriftstellerin sehr gern, die Frau Zuckmayer. Haben Sie etwas gelesen von ihr?
CK: Von der Frau Zuckmayer? Wie heißt sie mit Mädchennamen?
CB: Das weiß ich nicht. Einige Bücher…Die Farm in den grünen Bergen heißt eines…von Vermont. Sie schreibt sehr gut.
CK: Haben Sie sie gekannt?
CB: Ja, sie war bei Schwarzwald auch.
CK: War sie Ihre Schulkollegin?
CB: Nein, nein. Sie war fünf Jahre älter. Sie war in einer höheren Klasse. Aber wir waren zusammen…haben uns halt gekannt.
CK: Aber Kokoschka hat ja wirklich unterrichtet in der Schwarzwaldschule?
CB: Ja, nicht zu meiner Zeit, aber früher wahrscheinlich.
CK: Wer waren Ihre Lehrer in der Schwarzwaldschule? Können Sie sich noch erinnern?
CB: Meine Lehrer? Ich weiß nicht, ob ich mich noch an die Namen erinnere…eigentlich unwesentlich. Es waren keine ganz berühmten Lehrer…die Reiss-Schwestern natürlich. Ich wollte Ihnen noch etwas zeigen. [Steht auf und holt ein Bild.]
1/00:40:28
Meine Schwester kannte den Kokoschka von der Frau Schwarzwald. Und da hat er einmal gezeichnet, ein Bild von ihr.
CK: Das ist von Kokoschka?
CB: Ja. Da ist eine mathematische Formel. Sie hat Mathematik studiert…meine Schwester.
CK: Wie hat sie geheißen?
CB: Else. Das Original ist irgendwo in…ich weiß nicht…Dresden oder wo. Das habe ich leider nicht.
CK: Das ist interessant.
CB: Dann muss ich Ihnen noch ein Bild, eine Fotografie, zeigen. [Holt die Fotografie.] Das ist eines der komischsten Bilder. Das ist vom ersten Konzert in Israel. Toscanini, und die einzige, die man sieht, bin ich da.
CK: Das ist toll! Das war--
CB: --1936.
CK: Was stand am Programm bei diesem Konzert? Was haben Sie da gespielt?
CB: Am ersten Pult…assistant viola.
CK: Welches Stück?
CB: [Johannes] Brahms, Zweite Symphonie…und [Felix] Mendelssohn, Sommernachtstraum. Und was sonst, weiß ich nicht…ist mir entfallen. Das Wesentliche war die Zweite Symphonie von Brahms. Es ist lustig. Es ist furchtbar komisch, weil es zufällig ist. Da war ich noch etwas jünger.
CK: Ihr Mädchenname war Hammerschlag?
CB: Hammerschlag.
CK: Haben Sie eine Margarethe Hammerschlag gekannt?
CB: Das war meine Cousine.
CK: Ist sie auf die Kunstgewerbeschule gegangen?
CB: War das nicht meine Schwester, Else? Ich weiß wenigstens nichts davon, aber es kann gewesen sein, dass sie vor meinem Bewusstsein dort war.
CK: Es ist nämlich so: Ich habe hier in New York eine Frau Bettina Detlefs getroffen. Sie war geborene Dux, und sie ist auf die Kunstgewerbeschule gegangen und hat mir ein Foto gegeben von der Kunstgewerbeschule 1917, von ihrer Klasse--
CB: --1917? Da war ich noch ziemlich klein.
CK: Und da hat sie gemeint, da wäre eine Margarethe Hammerschlag.
CB: [Pause. Holt etwas.] Es kann sein, dass sie auf der Schule war, aber ich weiß nichts davon. Es war jedenfalls vor meiner Zeit. Ach so, das sollte ich jetzt noch finden.
CK: Sie hat gemeint, das wäre die Margarethe Hammerschlag. Man sieht es schlecht. Es ist eine Kopie. [Beide schauen das Foto an.]
CB: Ich weiß nichts davon. Aber das heißt nicht, dass sie nicht da war. Ich war damals zwölf Jahre alt. 1917? Dreizehn Jahre alt.
1/00:45:18
CK: Können Sie sich noch an die Zeit…Sie sind in die Volksschule gegangen?
CB: Ja. Ich habe die ersten zwei Jahre mit meiner Mutter gelernt. Ich bin erst in die 3. Klasse gekommen.
CK: Wissen Sie noch, wo die Volksschule war?
CB: In der Wallnerstraße, ist um die Ecke von der Herrengasse gewesen.
CK: Im 1. Bezirk?
CB: Ja.
CK: Und dort waren Sie bis wann?
CB: Warten Sie, wann habe ich denn angefangen…ich war mit sechs, sieben, acht Jahren…mit neun Jahren bin ich wahrscheinlich in die Schule gekommen, in die Volksschule. Ich habe dann noch zwei Klassen, drei Klassen gemacht. Ich hab die fünfte Volksschule auch gemacht. Und ich bin dann in das Realgymnasium gegangen.
CK: Also 1913 sind Sie in die Schule gekommen, 1918 waren Sie mit der Schule fertig und haben dann Realschule gemacht, bis 1921--
CB: --warten Sie mal. Sechs, sieben, acht, neun, zehn Jahre…[19]14 war ich fertig mit der Volksschule…wie der Krieg ausgebrochen ist.
CK: Können Sie sich daran noch erinnern?
CB: Dann habe ich noch versucht…in der Realschule habe ich im ersten Jahr noch Auszeichnung gehabt, und dann…ich konnte nicht lernen. Ich habe panische Angst gehabt vor Prüfungen und wurde immer schlechter. Ich war irgendwie…nicht ganz bei der Sache.
CK: Haben Sie schon an Musik gedacht?
CB: Ja. Das war dann besser.
CK: Können Sie sich noch erinnern an 1914, der Ausbruch des Weltkriegs, die Ermordung des Thronfolgers?
CB: Das habe ich nicht so ganz erfasst. Aber den Krieg…ich weiß, ich sehe mich noch als kleines Kind beim Begräbnis vom Franz Joseph zuschauen…am Burgplatz. Wann ist er gestorben? [19]17?
CK: 1916.
CB: [19]16. Ja, da war ich zwölf. Aber ich sehe mich an der Hand von meinem Kinderfräulein am Burgplatz stehen…und der kleine Otto [Habsburg] mit den blonden Locken und dem schwarzen Streifen um das weiße Kleidchen…das hat mir einen großen Eindruck gemacht.
CK: Das war sein Trauerzug.
CB: Ja, natürlich. Ich war zwölf Jahre, es ist schon lange her. Aber es gibt gewisse Dinge im Leben, die einem eingeprägt sind, die man nicht vergisst. Aber fragen Sie ruhig, wenn Sie was wissen wollen.
CK: Und die Kriegszeit?
CB: Die Kriegszeit haben wir…mit wenig Essen. Mein Bruder war in Russland gefangen und ist geflohen. Wie, ist mir nie begreiflich geworden, aber er kam nach Wien zurück. Und mein anderer Bruder, der war nie wirklich richtig im Krieg…aber wir haben dann in der Gemeinschaftsküche gegessen. Ich erinnere mich noch mit Begeisterung an Schokolade zum Trinken mit Buchteln, die wir in der Ausspeisung bekommen haben. Es gibt so Sachen, die einem so Eindruck machen als Kind.
CK: Das war eine Gemeinschaftsküche?
CB: Die Gemeinschaftsküche war auch von der Frau Dr. Schwarzwald eingerichtet. Das war eine von denen. Es gab ja mehrere, die sie eingerichtet hat, wo man hingegangen ist, das Essen geholt hat und es zu Hause aufgewärmt hat.
CK: In Wien waren ja damals viele Flüchtlinge aus dem Osten. Haben Sie da etwas bemerkt, dass sich das Leben in Wien dadurch geändert hat? Durch den Krieg war ja die Versorgungslage schlecht, dann gab es viele Kriegsflüchtlinge aus dem Osten…wie war denn die Situation in Wien?
1/00:50:18
CB: Das habe ich als Kind nicht so erfasst. Ich war ja vierzehn Jahre, wie der Krieg…zehn Jahre, wie der Krieg ausgebrochen ist. Das hat man…I am sorry, ich habe das noch nicht in der Hand, die Sache. Da habe ich eigentlich noch nicht erfasst, was los ist in der Welt. Ich habe gewusst, dass es Krieg gibt…bis vierzehn. Da habe ich schon mehr erlernt.
CK: Die Situation nach dem Krieg war ja sehr trist?
CB: Im Jahr [19]18? Das weiß ich wirklich nicht mehr. [Pause.] Dann kam ja diese furchtbare Sache mit dem Geld.
CK: Inflation?
CB: Dass man plötzlich nur mehr mit Millionen gehandelt hat. Furchtbar!
CK: Ihre Eltern stammen aus Wien?
CB: Ja.
CK: Sie waren schon…praktisch auch Ihre Urgroßeltern? Haben Sie auch Ihre Großeltern kennengelernt?
CB: Ja, ich habe zwei Großmütter kennengelernt…Großväter habe ich nicht mehr gekannt.
CK: Alle waren schon in Wien geboren?
CB: Mein Großvater väterlicherseits hat dem Freud, dem Sigmund Freud, sein Studium gezahlt. Ja. Das war alles ein Kreis. Mein Vater war ja befreundet mit Freud. Und meine Geschwister waren mit den Freud-Kindern befreundet.
CK: Ach so, mit Anna Freud? Die Berggasse war auch nicht weit entfernt.
CB: Berggasse, ja, war ganz in unserer Nähe.
[Übergang/Schnitt.]
CK: Das Medizinstudium war hier ja nicht anerkannt.
CB: Es war schwierig, sie mussten sehr viele Prüfungen machen und so. Nein, es wäre anerkannt worden, das schon. Er wollte lieber Psychiater werden. Ich habe ihm das nie verziehen, aber…weil er einer der wenigen wirklich guten Ärzte war. Er hat einen Instinkt gehabt, was heute die wenigsten haben. Heute wird doch alles mit Maschinen und Tests und Untersuchungen…es gibt fabelhafte Sachen, ich meine, fabelhafte Erneuerungen, aber auf der anderen Seite wieder gibt es die, die weg sind. Instinkt ist eigentlich weg.
CK: Haben Sie eigentlich in Wien Antisemitismus erlebt?
CB: Direkt nicht, aber Wien war ja sehr antisemitisch. Ich meine, das Wort „Saujud“ war ja ein gebräuchlicher Ausdruck.
CK: Und bei Ihren Besuchen in Wien nach [19]45?
CB: Ich habe direkt nichts erlebt, aber Freunde haben unangenehme Sachen erlebt: „Da kommen sie wieder, die Desserteure vom Konzentrationslager“, und solche Sachen. Ja, man glaubt es nicht, aber so ist es.
CK: In Wien?
CB: Ja.
CK: Haben Sie überlegt, nach Österreich zurückzukehren nach [19]45?
CB: Nein. Das könnte ich nicht. Ich wäre ja mutterseelenallein dort. Ich fahre jedes Jahr im Sommer – jetzt am Samstag fahre ich wieder hin – nach Kärnten, zur Schrothkur. Haben Sie davon gehört? Das ist eine Reinigungskur. Man kriegt nichts zu essen. Und da fahre ich seit zwölf Jahren jedes Jahr hin. Ich find es fabelhaft.
CK: Wo in Kärnten?
CB: Bei Mallnitz.
CK: Ich bin in Kärnten geboren.
CB: In Mallnitz?
CK: In Wolfsberg.
CB: Wolfsberg?
CK: Das ist zwischen Klagenfurt und Graz, genau in der Mitte.
CB: Das heißt Obervellach und ist vielleicht fünfzehn Minuten von Mallnitz.
CK: Vom Namen her kenne ich es.
CB: Sie sind dort geboren, Sie sind Kärntner?
CK: Ja. [Pause.]
1/00:55:38
CB: Ja, ich finde schon…ich meine, ich hänge eigentlich sehr an Wien. Es ist eine der schönsten Städte.
CK: Haben Sie eigentlich noch viele Fotos und Dokumente aus Österreich mitnehmen können?
CB: Ja, was ich so an Heimatscheinen und Trauscheinen und solche Sachen…meinen Sie das?
CK: Ja.
CB: Ja, das habe ich alles noch. Gott sei Dank, denn es wird so oft verlangt.
CK: Würden Sie dem Leo Baeck Institute das als Kopie zur Verfügung stellen, die Dokumente von damals?
CB: Den Heiratsschein?
CK: Oder Schulzeugnisse…Heimatschein.
CB: Schulzeugnisse habe ich nicht, Heimatschein schon.
CK: Haben sie auch Programmzettel?
CB: Programmzettel von der Oper? Da habe ich Die Frau ohne Schatten vor allem…die Premiere. Das müsste ich jetzt erst rausholen…vielleicht können Sie im Herbst noch einmal kommen. Da habe ich viele Programme von Wiener Konzerten auch…und Opern. Meine erste Oper, Don Giovanni…und Tannhäuser [und der Sängerkrieg auf Wartburg], da habe ich alle Programme. Ich habe mir immer gedacht, ob einmal Die Frau ohne Schatten, das Programm, irgendwie wichtig wird für jemanden. Ich gebe es Ihnen gerne. Ich kann ja nichts mehr damit anfangen.
CK: Toll. Haben Sie auch Fotos von Ihrer Familie in Wien?
CB: Ja, so ein dickes Album…aber hauptsächlich von mir. [Lacht.] Von der Familie…wo ist das denn jetzt? [Sucht und zeigt Fotos ihrer Familie.]
[Übergang/Schnitt.]
CK: Sind Sie, Ihre Eltern, auch auf Sommerfrische gefahren?
CB: Ja, hören Sie, davon haben wir ja gelebt! Die ganze Jugend habe ich in Österreich, in Tirol verbracht. Im Stubaital…das schönste…zweimal in den Dolomiten. Und dann hat meine Mutter eben die Schweiz entdeckt, in späteren Jahren. Und daher hänge ich jetzt irgendwie noch daran.
CK: Da sind Sie immer wandern gegangen, Bergtouren?
CB: Ja, das ist fabelhaft. Jetzt mache ich nichts mehr, aber früher bin ich noch gestiegen auf den Berg.
CK: Da sind Sie immer im Sommer hingefahren?
CB: Juli, August, bis die Schule wieder angefangen hat…bis die Herbstzeitlosen gekommen sind, dann ist man traurig geworden. Das bedeutet Kindern ja sehr viel…der Schluss vom Sommer. Dann waren wir auch ein paar Jahre in Altaussee, im Krieg…im Salzkammergut…aber sonst eigentlich immer in Tirol.
CK: Im Salzkammergut hat sich ja die ganze Wiener Gesellschaft versammelt.
CB: Ja. Ich war aber nie so gern im Salzkammergut wie in Fulpmes, in Tirol. Aber…alle, die ganze Wiener Gesellschaft – Sie haben recht – war dort…berühmte Dichter.
CK: Haben Sie da mal jemanden getroffen?
CB: Ich weiß nur, dass der Jakob Wassermann in Altaussee war. Sonst habe…ich war ja noch ein Kind damals, das war im Krieg.
CK: In die Musikakademie sind Sie wann eingetreten?
CB: 1918. Ja. Nein, keine Spur…mit vierzehn Jahren bin ich in die Akademie…mit vierzehn oder fünfzehn…das muss 1918 gewesen sein.
1/01:00:22
CK: Wie viele Jahre haben Sie studiert?
CB: In der Musikakademie? Ich glaube, sieben Jahre.
CK: Bis 1925.
CB: Und ich bin dann aber sofort in ein berufliches Quartett…eigentlich wie ich noch an der Akademie war. Ich habe mit der ersten Geigerin im Quartett in einem Privathaus gespielt, zum Vergnügen. Und da hat sie mich dann engagiert ins Quartett.
CK: Und das waren nur Frauen, im Quartett?
CB: Ja.
CK: War das nicht sehr ungewöhnlich zu dieser Zeit?
CB: Ja und nein. Ich glaube, abwechselnd Frauen und Männer wäre noch ungewöhnlicher gewesen. Es gab doch eigentlich bis jetzt hier gar keine Frauen im Orchester. Ich glaube sogar, dass die Wiener Philharmoniker immer noch keine Frauen haben. Hier sind die Orchester voll von Frauen jetzt. Ich war unlängst ganz erstaunt…ich weiß nicht, welches Orchester das war…haufenweise Frauen.
CK: Bei den Berliner Philharmonikern auch.
CB: Die Berliner? Ja? Also die einzigen…die Wiener sind anti-female. Spielen Sie ein Instrument?
CK: Leider nein…nur den Plattenspieler. [Beide lachen.]
CB: Ich habe so schöne Platten hier…noch von meinem Mann. Ich spiele sie so selten.
CK: Wo Ihr Mann dirigiert?
CB: Er hat in Hamburg Platten gemacht, in Stuttgart Platten gemacht…verschieden.
CK: Haben Sie auch mal unter Ihrem Mann als Dirigenten gespielt?
CB: Ja, in Russland, und in Wien, das war mit dem [Wiener] Konzertorchester. Das war eigentlich das einzige Mal. Hier--
CK: --haben Sie meistens im Konzerthaussaal gespielt?
CB: Nein, in Wien haben wir im Kleinen Musikvereinssaal gespielt und…im Musikvereinssaal habe ich eigentlich nie gespielt. Ich habe in Wien ja nicht sehr viel Orchester gespielt…hauptsächlich Quartett. Aber das war meine Quartett-Zeit.
CK: Wo waren die Aufführungen im Quartett?
CB: Die waren im Kleinen Musikvereinssaal. Sonst sind wir hauptsächlich gereist. Da habe ich noch viele Kritiken davon. Holland und--
CK: --haben Sie da noch Programmhefte?
CB: Ja, ein paar noch. Programmhefte habe ich ganz wenig. Das zerfällt auch langsam, das ist ja Papier.
CK: Und Zeitungskritiken?
CB: Ja, die habe ich von England, und Holland, und…weiß nicht was. Ich habe sie unlängst wieder draußen gehabt.
CK: Das wäre toll, wenn ich mich im Herbst wieder melden darf bei Ihnen.
CB: Gerne, dann suche ich die Sachen raus, die Sie gerne sehen möchten. Dann weiß ich mehr, was Sie wollen. Die Opernprogramme können Sie haben, und die Konzertprogramme…manche sind wirklich ganz interessant…von den Wiesenthal-Schwestern [Grete, Elsa und Bertha], die Tanzabende. Den Namen kennen Sie vielleicht gar nicht.
CK: Wiesenthal, doch.
CB: Drei Schwestern, die getanzt haben…und einmal eine allein. Und alles mögliche…Hans [unklar] Konzert…
CK: Haben Sie Fotos von Israel, von Ihren Konzerten?
CB: Ja…außer dem [Foto mit Toscanini] habe ich eigentlich nichts, nein…komischerweise.
1/01:05:02
Ich habe einmal, das hab ich gar nicht erwähnt…das habe ich vergessen…ich bin als Extra mitgenommen worden mit dem Pittsburgh Orchestra, auf eine Elf-Wochen-Tournee in Europa und dem Nahen Osten. Das war fabelhaft. Da haben wir wirklich die ganze Welt kennengelernt. Wir haben am Abend gespielt, und am Tag haben wir die Städte angeschaut. Das war fabelhaft…habe ich vergessen zu sagen.
CK: Das war nach dem Krieg, nach 1945?
CB: Das war [19]64. Kolossal! Elf Wochen…in den schönsten Hotels gelebt, Geld verdient und eine gute Zeit gehabt.
CK: Da sind Sie bis in den Nahen Osten?
CB: Wir waren in Madrid und in München, da bin ich zur Zugspitze gefahren und alles. Und am Abend hat man halt gespielt.
CK: Sind Sie auch in Wien aufgetreten, in Österreich, mit dieser Truppe?
CB: Wir haben immer eine bestimmte Summe in einer Bank in Pittsburgh hinterlegt gehabt. Und dann haben wir, was man per diem nennt, täglich unser Geld bekommen, in der Währung…war schön. Da war eine der schönsten Tourneen, die ich gemacht habe…ganz Europa, und Athen, Beirut.
CK: Aber nicht in Österreich?
CB: Nein, in Österreich waren wir nicht. In Udine…wahnsinnig viel Konzerte…Frankreich, Spanien…kolossal! Das Spielen war für uns nur Nebensache. Die Hauptsache war, dass wir die Städte angeschaut haben. [Lacht.] Warschau, Madrid…es fällt einem nicht immer gleich alles ein. Das war wirklich eine der schönsten Sachen.
CK: Ja, gut.
CB: Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr enttäuscht.
CK: Nein, überhaupt nicht.
[Ende des Interviews.]