Josef Kohn

Josef Kohn wurde 1925 in Wien geboren und lebte mit seinen Eltern im 20. Bezirk. Nach dem ‚Anschluss’ trat er dem Hashomer Hatzair bei, durch den er als Teil des sogenannten „Kladovo-Transportes“ aus Österreich flüchten konnte. Kohn gehörte zu einer kleinen Gruppe, die diesen Transport überlebte und im März 1941 in Palästina ankam. Seine Eltern überlebten nicht. Kohn war später im Kibbuz Gan Shmuel in verschiedenen Bereichen tätig, bevor er sich der Arbeit mit Jugendlichen widmete, was ihn in den 1970er-Jahren auch einige Jahre nach Wien führte. Heute lebt er in Israel.

Vollständiges Interview

Teil 1
Teil 2
Art des Interviews:
Video
Ort des Interviews:
Haifa, Israel
Sprache(n) des Interviews:
Deutsch
InterviewerIn:
Lisa Schulz-Yatsiv
Interviewdauer:
01:15:10
Bestand:
LBI Jerusalem
Sitzungsanzahl:
1
Datum des Interviews:
25. März 2014
Josef Kohn
Geburtsdatum:
1925
Geburtsort:
Wien, Österreich
Fluchtroute
1939 Wien, Deutsches Reich
1939 Bratislava, Slowakei
1939 Kladovo, Jugoslawien
1940 Šabac, Jugoslawien
1941 Atlit, Palästina
Lebensstationen
Hier sind in chronologischer Reihenfolge Orte erfasst, an denen sich die interviewte Person im Laufe ihres Lebens aufgehalten hat.
Wien, Österreich
Gan Shmuel, Israel
Wien, Österreich
Gan Shmuel, Israel
Organisationen
ab 1938
Hashomer Hatzair - Wien, Österreich
Hashomer Hatzair - Israel
Haganah - Palästina
Ausbildung
bis 1935
Pflichtschule
Volksschule
Wien, Österreich
ab 1938
Berufsausbildung
Lehrlingsheim
Grünentorgasse 26, 1090
Wien, Österreich
Beruf/Beschäftigung

in chronologischer Reihenfolge

tätig im Bereich
Handel und Verkauf / Soziales, religiöse Dienste
Israel
Gan Shmuel
Österreich
Wien
„Spricht über“ sind besonders interessante Passagen in den Interviews, die von der Redaktion des Austrian Heritage Archive zusammengestellt wurden.
Identität der Familie
Armut und Wohnungsnot der Familie in Wien
Deutsch statt Wienerisch
Verfolgung der Familie nach dem ‚Anschluss‘
Mitgliedschaft bei Makkabi und Hashomer Hatzair
Der letzte Kontakt zu den Eltern
Beteiligter im Unabhängigkeitskrieg
Temporäre Rückkehr nach Wien
Umgang Österreichs mit Antisemitismus und der NS-Vergangenheit
Leben in einem Kibbuz zum Zeitpunkt des Interviews

Teil 1

 

 

LSY: Interview am 25. März 2014 mit Josef Kohn, interviewt von Lisa Schulz-Yatsiv. Wir fangen ganz am Anfang an: Kannst du mir erzählen, was du noch von deinen Großeltern weißt, von deiner Familie damals?

 

JK: Von den Großeltern, eigentlich, weiß ich nicht allzu viel. Ich habe die Geburtsdaten, wenn du willst, muss ich aber suchen von irgendwo.

 

LSY: Können wir nachher noch machen.

 

JK: Vonseiten meines Vaters, beide, die Großmutter und der Großvater, sind in einem Dorf in Böhmen an der österreichischen Grenze namens Schaffa [Šafov, heute in Tschechien] geboren worden, am Ende des 19. Jahrhunderts. Und von dort sind sie…begann die Wanderung: am Anfang nach Wien, dann kurze Zeit nach München und von München zurück nach Wien. Mein Vater ist in München geboren, zufällig auf der Durchreise, sage ich immer. Aber es sind noch zwei Kinder, glaube ich, in München geboren. Und die waren…der Großvater war…der Urgroßvater war Getreidehändler.

Das Besondere, würde ich sagen, von der Geschichte der Familie bis am Ende…bis am grausamen Ende der Familien war, dass wir eigentlich uns als Österreicher angesehen haben. Wir wussten, wir sind Juden. Wir waren Juden. Die Parole von meinem Vater war…er hat das gesagt, als junger Mensch gesagt, aber er wusste nicht, wie grausam sich das verwirklichen wird. Wenn man ihn gefragt hat: „Warum bist du nicht aus dem Jud…trittst du nicht aus dem Judentum aus?“, sagte er: „Bin ich zufällig als Jude geboren, werde ich als Jude sterben.“ Und so war das. Das Ende von dem größten Teil der Familie war der Mord von den Nazis. Nur wenige sind gerettet…und ich. Das ist der Teil von der…von meinem Vater. Beide Großeltern sind in Schaffa geboren, habe sogar die Daten von Geburts…Geburtszeugnissen. Das habe ich eigentlich alles nach dem Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg, bekommen. Ich habe das…wie ich in Wien war, drei Jahre auf Schlichut…habe ich langsam und verschiedene Dokumente gesammelt und gesucht, darunter auch…ich weiß selbst nicht, wo ich all das bekommen habe.

 

Die Gro…von der Mutter, wie gesagt, die Familie stammt aus Slowakien [Tschechoslowakei]. Ob die Großmutter in Wien geboren ist, weiß ich nicht. פשוט [hebr.: einfach]…ist einfach…wir…darüber hat man nicht gesprochen. Das ist nur von…von Gesprächen nachher mit der Familie. Ich muss sagen, in der Zeit, als ich Österreich verlassen habe, waren wir eine riesen Familie. Beide Großeltern haben über…haben je zehn…zehn oder zwölf Kinder gehabt.

 

 

1/00:05:11

 

 

LSY: Und die waren alle in Wien?

 

JK: Alle in Wien.

 

LSY: Die Tanten und Onkel?

 

JK: Alle in Wien. Und wir hatten immer…jeden Samstag bei der Großmutter, von meiner Mutter hat sich der Teil der Familie getroffen und alle Kinder. Das war eine ziemlich familiäre Familie würde ich sagen. Aber wir waren arm, eine arme Familie, Proletarierfamilie nannte man das. War kein einziger Teil, von dem man sagen konnte, die waren wohlhabend. Alle waren arm, Arbeiter. Handwerker mehr oder…Schneider, hauptsächlich Schneider.

 

LSY: Dein Vater auch? Oder was hat dein Vater beruflich gemacht?

 

JK: Nein, nein, mein Vater war Hilfsarbeiter. Wir waren ein ziemlich armes Heim. Ich kann mich…wie gesagt, die…überhaupt die…unser ganzer Lebensraum war eigentlich österreichisch. Ich…unser…ich habe…wir haben…die Zeit, wo wir eine eigene Wohnung gehabt haben, die war ganz kurz, in einem Arbeiterhaus. Ich weiß nicht, ob du weißt, was das ist. Nach dem Ersten Weltkrieg hat die österreichische…die Wiener Regierung Häuser gebaut für Arbeiter, die nannten das Arbeiterbau. Und in einem dort haben wir eine Wohnung gehabt, sehr bescheiden. Bescheiden gesagt. Es war--

 

LSY: --in welchem Bezirk war das?

 

JK: Im 20. Bezirk. [Friedrich-]Engels-Platz, wenn du weißt, bei der Floridsdorfer Brücke, ganz nahe. Das war damals die Lösung der Arbeiter…der Wohnungsnot. Sind sehr viele…sind bis heute bewohnt. Aber die Wohnungen waren ohne מקלחת [hebr.: Dusche], ohne…war ein WC, war kein…keine Waschgelegenheit. Und wenn du dich waschen wolltest, oder…hast du dir ein Lavoir genommen, ein Becken, oder wie heißt…es war ein allgemeines Tröpferlbad im Bau. Das heißt, die Lebensverhältnisse waren sehr, sehr, sehr schlecht. Also, bei den…bei den Großeltern waren…haben einige…haben wir einige Zeit gelebt, in der Wohnung von den Großeltern. Weil wir keine eigene Wohnung gehabt haben. Und nachdem wir von der…von der Wohnung, vom Gemeindebau rausgeworfen sind von den Nazis, sind wir auch wieder zurück in den 20. Bezirk zu meiner Großmutter. Das heißt, wir eigentlich…mehr Zeit meiner Jugend habe ich in der Wohnung von meiner Großmutter gewohnt. Da haben wir ein ganz ein kleines Zimmer gehabt, ein Kabinett, so nannte man das. Und der Vater…der Vater war, wie gesagt, Hilfsarbeiter.

 

LSY: Aber großer österreichischer Patriot?

 

JK: Nicht Patriot, aber Österreicher. Er hat…er war ziemlich aktiv tätig in der Sozialistischen Partei. Wenn das Patriot heißt? Aber er war jedenfalls weit entfernt von…vom Judentum. Mit dem hat er überhaupt keine…nichts zu tun gehabt.

 

LSY: Habt ihr die Feiertage überhaupt nicht gefeiert?

 

JK: Überhaupt nicht. Zu Hause haben wir überhaupt keine Feste gefeiert. Auch bei den Großeltern eigentlich nicht. Hie und da. Meine Großmutter, von der Seite der Mutter…das war mehr eine Ehrensache, nicht vom Glauben. Zu den hohen Feiertagen – das war Rosch ha-Schana und Pessachnein, Jom Kippur – hat man ihr…man nannte das einen Sitz im Tempel…ein…ein gift. Haben alle Kinder dazu beigesteuert und haben so ein…das wurde für sie gekauft und die ist zum Teil dorthin gegangen. Was sie dort gmocht [gemacht] hat, weiß ich nicht, weil ich Hebräisch natürlich nicht verstanden habe und nicht…aber das war der einzige Kontakt mit dem Judentum. Auch sonst…wir wussten, wann die Feste sind, vor allem, weil wir nicht zur Schule gegangen sind, aber das war das einzige Zeichen.

 

 

1/00:10:40

 

 

LSY: Welche Erinnerungen hast du noch an die Schule?

 

JK: Die Schule war eine gewöhnliche Volksschule. Wie alle anderen…Nicht-Juden zusammen. Der Freundeskreis waren Nicht-Juden. Ich kann mich auf ganz wenige Juden erinnern, die irgendwie mit mir befreundet waren oder bekannt waren. Befreundet würde ich kaum sagen. Wir waren eigentlich…ich wurde…das hat vielleicht noch dazu beigetragen, dass der ganze Einmarsch der deutschen Truppen der Nazi für uns etwas ganz Katastrophales war. Wir sind auf einmal von Hitler zu Juden gemacht worden, ob wir wollten oder nicht.

 

LSY: Davor habt ihr Antisemitismus nie besonders stark gespürt?

 

JK: Eigentlich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich, ich persönlich, irgendwas gehört oder gespürt habe. Ich war in einer…ich habe Leichtathletik ausgeübt. Nie, nie, nie habe ich etwas gespürt. Vielleicht, vielleicht verdränge ich es, ich weiß nicht. In der Klasse, in der Schule jedenfalls nicht. Auch von der Familie kann ich mich…in der Familie kann ich mich nicht erinnern, dass Vorfälle waren. Dazu war noch dazuzurechnen…wir haben die…die Sprache bei uns war Wienerisch. An der Sprache hat man überhaupt…den schlimmsten Dialekt haben wir gesprochen. [Grinst.] Bis heute, wenn ich in Wien bin und kein Mensch mich kennt. Jetzt bemühe ich mich, Deutsch zu sprechen.

 

LSY: Du kannst ruhig Wienerisch sprechen. [Lacht.]

 

JK: Nein, jetzt geht es schon nimmer [nicht mehr]. Aber wie ich in der שליחות [hebr.: Eigenname Schlichut, wörtlich: Mission, zionistisches/jüdisches Programm] war, da war ein Vorfall, nur um das zu erklären. [Lacht.] Die ersten Wochen, als ich in Wien war und mit…mit Publikum zusammengekommen bin, Vorträge und--

 

 

[Jemand betritt den Raum und grüßt.]

 

 

JK: --am Anfang, wenn ich mit dem Publikum zusammengekommen bin, war ich mir nicht sicher mit der Sprache, nach so vielen Jahren. Und da habe ich immer wieder gesagt, am Anfang zum Publikum: „Ihr werdet mich entschuldigen, wenn ich Fehler mache oder…oder einige Worte mir fehlen, könnt ihr ruhig mir...mich aufmerksam machen.“ Aus und dann weiter. Nach zehn Minuten, Viertelstunde ist einer…der hat gesagt: „Ich will jetzt etwas sagen.“ – „Sag.“ Dann sagt er: „Sie haben gesagt, wir sollen Ihre Sprache verbessern. Sie sind ja der Einzige, der hier Deutsch spricht!“ [Beide lachen.] Die Wiener Juden sprechen im Allgemeinen, ich weiß nicht, ob Sie das gekannt haben, aber sprechen mit einem jiddischen Einschlag. Da war ich stolz darauf, dass man mich lobt.

 

LSY: Also, in der Familie habt ihr Dialekt gesprochen?

 

JK: Ich habe nicht Dialekt gesprochen!

 

LSY: Nein, in der Familie damals?

 

JK: Ja. Nicht richtig, nein--

 

LSY: --Wienerisch, ja?

 

JK: Aber ein wienerisches Deutsch, kein…auf der Straße, mit der Schule habe ich…am Spielplatz, am Fußballplatz habe ich andere, habe ich Wienerisch gesprochen. Aber jedenfalls, man hat an unserer Sprache nicht erkennen können, dass wir Juden sind. Das hat auch viel zum…zum Lebensraum dazu getragen. Ja, und das ist die Geschichte von der Familie, mehr oder weniger.

 

 

1/00:15:31

 

 

LSY: Kannst du dich noch erinnern, was deine Lieblingsorte damals als Kind in Wien waren? Wo bist du viel hingegangen?

 

JK: Hingegangen? Wir haben den Hofgang…am [Friedrich-]Engels-Platz, das ist ein Gebäude, das ist…wie für eine…da sind die Wohnungen rund um einen Hof. Und im Hof drinnen waren…waren die Spielplätze, da bin ich hinunter zu denen. Und dort hat sich das Leben mehr oder weniger getan. Oder wir sind dann, wie [als] ich ein bisschen älter war, sind wir auf die Donauwiese gegangen Fußballspielen. Von dort habe ich es dann…dann bin ich Sportverein in die Athletik gegangen, es war schon ein geordnetes Leben. Im Winter sind wir Eislaufen gegangen, aber das…wie gesagt, es war…nimm eine österreichische Familie und das waren wir. Ich glaube, wir haben jeden, beinahe jeden Sonntag Ausflüge gemacht im Wienerwald. Wir haben zu wenig Geld gehabt. Urlaube, das haben wir selten einmal…aber wenn zufällig irgendwas bisschen billig zu haben war, sind wir irgendwo ins Dorf gefahren für einige Tage und sind dort verblieben. Aber das war nicht ständig. Das, wie gesagt, das Lebensniveau, das man kennt, als jüdische Familie, glaube ich, ich kenne persönlich wenig, die so ein Leben gelebt haben. Die meisten haben doch…die meisten Familien haben doch mehr Kontakt gehabt.

 

LSY: Mit anderen jüdischen Familien.

 

JK: Die Festtage waren allgemein Festtage. Aber bei uns haben die jüdischen Festtage kein Gewicht gehabt. Gut, ok, das war der Anfang.

 

LSY: Und Zionismus war auch nie ein Thema in eurer Familie?

 

JK: Im Gegenteil, mein Vater war Antizionist. Der war…das hat uns das Leben ge…geko…das ist ein Nebenzweig der Geschichte: Ich habe einen Onkel gehabt. Eine Schwester von meinem Vater hat schon nach dem Einmarsch der Nazis…hat einen Jugendfreund von meinem Vater geheiratet. [Kinderstimmen im Hintergrund.] Der ist aus Amerika gekommen, er war in Amerika…er hat in Amerika gelebt, ist nach Wien gekommen, um die Familie Kohn zu retten und hat dann, um sicher zu sein, dass er eine wenigstens rettet, hat er eine…meine Tante geheiratet. Und hat dann nachher…jedem, der wollte, hat er eine Einreisebewilligung geschickt. Das hat Geld gekostet, aber er war dazu bereit. Und er hat meinem Vater ein…man nannte das Affidavit…hat ihm ein Affidavit geschickt. Er hat ein Affidavit in der Tasche gehabt. Und er wollte nicht nach Amerika fahren. Er hat gesagt, es gibt dort zu viel Juden. [Grinst.] War…Antisemit. Er war, er hatte…in Schaffa war er Hilfsar…war er Landwirtschaftsarbeiter. Also, eigentlich war er…hat er Zeugnisse gehabt von Landwirtschaft und das hat ihm dann in der Nazizeit…hat ihm geholfen und er hat von der zionistischen Organisation…weil du gefragt hast, ob er Zionist war…aber er hat von der zion…man suchte Juden, die irgendwelche Verbindungen mit Landwirtschaft hatten. Weil, um die Hachschara-Plätze…weißt du was… du weißt…um landwirtschaftliche Hachschara-Plätze leiten zu können. Und da sind sie auf meinen Vater gestoßen, und er war nachher in der Nazizeit, [19]38 bis [19]39, Leiter von einem Hachschara-Platz in der Wachau. Und das war – ich gehe jetzt über in die Nazizeit – der Kontakt mit der zionistischen Bewegung. Und das gab ihm nachher das Recht – als sich illegale Transporte nach Palästina organisierten und man überhaupt keine andere Möglichkeit mehr hatte, irgendwohin auszuwandern – sich so einem Transport anzuschließen. Das war derselbe Transport, wo ich…wo wir als Jugendliche fuhren. Das ist wieder eine…das ist ein anderes Interview. Das ist der…das nannte sich dann den Transport von Kladovo-Šabac, von dem du sicher gehört hast. Wir sind dann mit diesem Schiff gefahren, bis wir aufgeh…bis wir stecken geblieben sind, und--

 

 

1/00:22:05

 

 

LSY: --darüber kannst du gleich noch mehr erzählen. Ich gehe noch mal kurz zurück: Ich wollte noch fragen, kannst du dich noch erinnern an den Tag von dem Anschluss, wie du das erlebt hast?

 

JK: Ja. Sicher, sicher. Der Tag von Anschluss, da sind wir zu Hause gewesen am [Friedrich-]Engels-Platz und haben das Gebrüll auf der Straße gehört. [Zeigt auf seinen Nacken.] Wie nennt man das? [Zeigt abermals auf seinen Nacken.]

 

LSY: Die Haare im Nacken haben sich gesträubt.

 

JK: Ja. Aber das ist schon wieder eine persönliche Meinung: Kein Mensch…nein, obwohl wir wussten, was der Nazismus ist, dadurch, dass mein Vater aktiv war in der Sozialistischen Partei. Wir hatten einen Flüchtling…einen deutschen Flüchtling hatten wir circa eine Woche, zehn Tage bei uns zu Hause übernachten lassen. Er war Flüchtling und er hat uns von den Grausen der Nazis erzählt. Aber kein Mensch hat irgendwelche…eine Ahnung gehabt, ein Gefühl gehabt, was das…was der Nazismus bringen konnte. Und mein Vater hat immer gesagt: „Wir werden da durchkommen.“ Er war Optimist. Wegen dem hat er auch die Ausreise nach Amerika abgelehnt, obwohl er in die ganze Welt versucht hat…ich kann mich erinnern, er hat versucht nach Paraguay, Uruguay…die südamerikanischen Länder versuchte er. Natürlich war alles zu. Die einzige Gelegenheit war damals die illegale Auswanderung. Aber ich kann mich genau erinnern.

 

LSY: Wart ihr damals überrascht darüber, wie begeistert die Österreicher die Deutschen empfangen haben?

 

JK: Natürlich, aber wir waren so…schau, ich war so dumm. Ich muss dir das erzählen. So unbewusst: Den Einmarsch der deutschen Truppen…bin ich gegangen am Ring und habe mir es angesehen. Kannst du dir das vorstellen? [Fasst sich mit der Spitze des Zeigefingers an die Stirn.] Ich bin da in der Nähe vom Parlament gestanden und habe den Einmarsch der deutschen Truppen mit angesehen. So, keine Angst gehabt. Aber die ersten Tage waren gefühlsmäßig…waren natürlich die ärgsten. Aber kein Mensch hat irgendwie…auch als…wie man schon versuchte zu verstehen, um zu flüchten, war schon keine Möglichkeit mehr, und das war das furchtbarste Gefühl. [Pause.]

 

 

1/00:25:36

 

 

JK: Das war für mich noch…wir wohnten damals…sind dann…das war so: Nach einigen Monaten sind wir von der…vom Gemeindebau rausgeschmissen worden, offiziell, gerichtlich sogar. Ich habe das…ich habe irgendwo auch Dokumente, wo die Polizei mitteilt, dass wir das Haus…die Wohnung verlassen müssen, und…damals…die Juden, natürlich haben sie ja damals nichts verdienen können, keine Arbeit finden können. Und die erste Zeit haben die Nazis Propaganda geführt: Die Juden sollen sich freiwillig melden, um nach Polen…um zu fahren, um dort ihre neue Heimat zu gründen. Und in Wirklichkeit haben sie die Vernichtungslager gebaut. Und einige…ich habe zwei Onkel gehabt, die sich freiwillig gemeldet haben und…und die sind [19]38 schon nach Polen gefahren. Keiner hat eigentlich gewusst, was sie dort machen. Die ganze Stimmung war…Dummheit, Ungewissheit.

 

LSY: Kannst du dich noch erinnern, wie sich Freunde von dir damals dann verhalten haben?

 

JK: Die haben sich nicht verhalten, sie sind verschwunden. Aus der Schule bin ich rausgeschmissen worden. Es wurde eine Judenschule gegründet. Da bin ich…im 9. Bezirk…hat man eine Schule gegründet nur für Juden und dort sind alle Klassen unterrichtet worden. Aber war nicht sehr inter…die besten Lehrer waren dort natürlich, aber keiner hat den Kopf gehabt zu lernen.

 

LSY: Das war eigentlich überhaupt das erste Mal, wo du mit vielen Juden zusammen warst?

 

JK: Es hat mich nicht gestört. Ich kann…aber die ganze Schule war ein Witz. Keiner hat das ernst genommen. Ich bin auch von dort…damals bin ich dann in Hashomer Hatzair eingetreten.

 

LSY: Wie bist du dazu gekommen?

 

JK: Auf Umwegen. Ich habe dir erzählt, ich bin…haben wir Leichtathletik…und im März, nach dem Einmarsch, habe ich das natürlich aufgeben müssen und habe was anderes gesucht und hat man gesagt: „Makkabi. Dabei habe ich nicht gewusst, dass Makkabi ein Sportverein ist, aber auch Judenbewegung. Dann hat man mich in die Judenbewegung gebracht, Freunde von mir. Hat mir nicht gefallen, bin ich einmal hingegangen und nicht mehr. Und dann in der…in der Schule habe ich einen Freund gehabt, der war in Hashomer Hatzair, und der hat gesagt: „Komm zu uns.“ Dann bin ich zu ihm gegangen. Und es war lustig und es war damals irgendein Fest oder irgendwas und da hat man am Anfang die Internationale gesungen. Hat mir gefallen, habe ich gesagt: „Da bleibe ich“. [Beide lachen.] Das ist meine Geschichte von--

 

LSY: --so bist du zum Hashomer Hatzair gekommen.

 

JK: Das hat mir das Leben gerettet. Von der Minute an die ganze Zeit bin ich im Hashomer Hatzair gewesen und das war…das ganze Leben ist Hashomer Hatzair.

 

LSY: Wart ihr dann auch auf Hachschara?

 

JK: Ja! Und dann bin ich auch selber auf Hachschara. Ich war einige Wochen bei meinem Vater auf Hachschara, war mit ihm zusammen, wo er Leiter war. Aber das war mehr oder weniger…dort war was zu essen – in Wien haben wir ja nichts zum Leben gehabt. Arbeiten hat er nicht können in Wien und daher bin ich zu ihm. Mit ihm, das war in der Wachau, haben wir im Wald, in den Wäldern gearbeitet. Und dann hat man eine Jugend-Hachschara gebildet und eine Gruppe vom Hashomer Hatzair ist dort hingefahren und da bin ich dort mit ihnen zusammen gewesen, in Walpersdorf, weißt du wo? In der Nähe von Wien. Dort waren wir einige Wochen und von dort sind wir dann auf die Alija gegangen, die ganze Gruppe. Das ist dieselbe Gruppe, die hier in Gan Shmuel auch war.

 

 

1/00:31:04

 

 

LSY: Wann war das?

 

JK: Das war November [19]39. Aber unterwegs waren wir bis März [19]41.

 

LSY: Also, wart ihr noch…wart ihr in Wien, als die Reichskristallnacht war? Kannst du dich noch erinnern?

 

JK: Die Kristallnacht? Ich kann mich erinnern, aber ich kann mich nicht genau erinnern. Ich glaube, wir sind alle…damals waren wir schon bei meinen Großeltern, bei meiner Großmutter. Und wir sind dann bei ihr in der Wohnung gesessen, wir wussten nicht, was sich draußen genau tut. Aber wir wussten, es ist was los, aber an Genaueres kann ich mich nicht erinnern. Die Sache ist ja, dass es…die ganze Geschichte, Weltgeschichte, ging vor meinen Augen vorbei, aber ich war noch ein Kind, habe das nicht richtig verstehen können. Obwohl auch die Alten es nicht verstanden haben. [Lacht.] Ich sage immer, die Tragödie – die der Shoah ist das Missverständnis, denn 80 Prozent der Juden nicht verstanden haben, was los ist.

 

LSY: Also, ihr seid dann…im November [19]39 habt ihr dann Österreich verlassen?

 

JK: Ja.

 

LSY: Und dein Vater war mit auf diesem Transport, aber illegal?

 

JK: Er war…der Transport war…auch meine Mutter, die waren zusammen.

 

LSY: Warst du Einzelkind, hattest du keine Geschwister?

 

JK: Ich war der Einzige. Aber der Transport war so schon…die meiste Zeit waren wir auf drei verschiedenen Schiffen. Das heißt, wir waren nicht richtig zusammen, nur am Anfang, die ersten paar Wochen, nein, nicht ein paar Wochen, vielleicht zwei Wochen waren wir auf einem österreichischen…Uranus hat das Schiff geheißen, da waren wir alle zusammen. War ein größerer Dampfer. Nachher sind wir auf drei jugoslawischen Dampfern aufgeteilt worden und dann sind wir geteilt worden: Waren die Jugend-Alija, die Religiösen und die anderen…סתם חלוצים [hebr.: Nur Pioniere, hebr. Eigenname für Pioniere: Chaluzim] haben die geheißen, die keine politische Einstellung gehabt haben…zionistische Einstellung. Und eigentlich war…die Zeit, als wir auf den Schiffen waren, nachher wurden wir verteilt. Zuerst waren wir in Kladovo, da waren wir…die Jugendlichen haben auf…in Zelten gewohnt, am Ufer. Und die Erwachsenen haben zum Teil in Privatwohnungen bei Bauern gewohnt. Aber das war schon anders aufgeteilt.

 

LSY: Was sind deine Erinnerungen von Kladovo?

 

JK: Von Kladovo weniger, von Šabac habe ich Erinnerungen. Aber ich habe keine…das ist auch das Furchtbare: Ich habe von den ganzen eineinhalb Jahren in Jugoslawien keine schlechten Erinnerungen. Das ist absurd. Man fragt sich…ich kann mich nicht erinnern, dass ich hungrig war. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir irgend…wir waren zu dumm, zu kindisch.

 

 

1/00:35:09

 

 

LSY: Ihr wart wahrscheinlich in eurer Gruppe viel zusammen und habt euch--

 

JK: --ja, wir waren in der Gruppe. Wir hatten einen wirklich hervorragenden Madrichim, der sich 24 Stunden am Tag mit uns beschäftigt hat. Und wir…wir haben uns so gefühlt, als ob das so sein muss.

 

LSY: Ihr hattet keine Angst, was passiert, wie es weitergeht?

 

JK: Nein, nein. Was passiert jetzt, was passiert nach einer Woche, keine…nein, nein. Das Schlimme ist, dass auch die Leitung des Transports keine Ahnung gehabt hat oder uns übergeben hat, was eigentlich die Wahrheit ist. Wir wussten nicht, was die Wahr…jedes Mal war irgendeine…wie nennt man das? Schmua.

 

LSY: Gerücht.

 

JK: Ein Gerücht, dass wir in einer Woche, in zwei Wochen, fahren. Und jedes Mal war eine Aufregung: „Es geht los!“ Und dann ist es wieder abgesagt worden. Und die Ungewissheit…zum Schluss hat schon kein Mensch dem anderen geglaubt…die…was da weiterfahren.

 

LSY: Was habt ihr tagsüber die ganze Zeit gemacht?

 

JK: Da ist wieder ein großer Unterschied: Wir als Gruppe, als organisierte Gruppe, wir haben die ganze Zeit irgendwas über…der Madrichim hat uns beschäftigt. Wir haben versucht Hebräisch zu lernen, wir haben über Politik diskutiert, er hat versucht die Weltgeschehnisse zu erklären…war Kriegszeit. Wir waren…ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns fadisiert haben. Wir haben Fußball gespielt. Wir haben eine Fußballmannschaft gehabt. Einen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Jugendgruppen. Wie gesagt, ich kann es…wenn ich zurückdenke, ich fühle…fühle da keine…das Einzige, was ich…wie sagt man noch? Das Einzige, was…was mir auf dem Herz liegt: Ich habe den Eltern zu wenig Zeit gewidmet. Meine Eltern waren dort, aber ich war mit der Gruppe. Ich habe eine Freundin gehabt, habe ich die alle…die mit denen…mich mehr mit der beschäftigt, als mit den Eltern. Und auch wieder mit der Überzeugung: „Wir werden uns sowieso bald wiedersehen.“ Wir sind auch der Meinung…wir waren auch der Meinung, dass sie in in kurzer Zeit nachkommen werden. Das war alles Illusion. Aber zum Teil war…zum Teil würde ich sagen, war das auch die Leitung des Transportes oder die zionistische Organisation. Das geht schon wieder zu der anderen Geschichte von Kladovo-Šabac: Warum der Transport stecken geblieben ist, ist bis heute ein Rätsel. Und man beschuldigt einen Teil der Führer der zionistischen Organisation, der David Hacohen ist einer von den Namen, die stark besch…und man will jetzt eine ועדת הכרה [hebr.: Annerkennungsausschuss] in Haifa aufstellen, die sollen dort zur Wahrheit kommen, aber wir werden nie zur Wahrheit kommen, wird auch nichts helfen. Weil da war eine Geschichte…ein Schiff, das hätte abholen sollen von Jugoslawien, wurde von der Sochnut an die Engländer verkauft und man wollte einen Deal machen: Die Engländer wollten das Schiff im Eisernen Tor…bei der Donau gibt es so eine Enge und da wollte man das Schiff versenken, um den Deutschen die Schifffahrt von Petroleum, von Erdöl aus Rumänien zu erschweren. War eine Illusion, aber jedenfalls dieses Schiff ist nie nach Jugoslawien gekommen und da beschuldigt man diesen David Hacohen. Beschreibt er, wie der Wahnsinn…dass dort die Leute eineinhalb Jahre gesessen sind und keinen Weg gefunden haben. Es war zwar Kriegszeit, aber…ich habe ein Buch in Deutsch, auch in Hebräisch, über den Transport.

 

 

1/00:40:58

 

 

LSY: Ihr seid dann also [19]41 weiter?

 

JK: Im März [19]41. Zwei Wochen oder drei Wochen, ehe die Deutschen einmarschiert sind. Und eine Gruppe ist nicht mehr dazu gekommen…sind erwischt worden.

 

LSY: Kannst du dich noch erinnern, hast du dich von den Eltern damals richtig verabschiedet?

 

JK: Ja! Aber nicht…das ist auch eine der Sachen, die ich heute bereue, die ich nicht verstehen kann, wie…ich kann mich erinnern, ein Bahnhof war dort, wir haben uns verabschiedet, aber das ist einer…das ist einer der…der schweren Punkte in meinem Leben, die ich bereue.

 

LSY: Aber ihr habt ja gedacht, dass sie wahrscheinlich nachkommen in ein paar Tagen.

 

JK: Ja! Ich habe Briefe. Drei Wochen, nachdem ich in Israel war, haben wir uns noch Briefe geschickt. Es waren Schlichim, die hin- und zurückgefahren sind, nach Jugoslawien über Istanbul. Und da habe ich Briefe von den Eltern, ich habe hingeschrieben und sie haben zurückgeschrieben. Und jedes Mal habe ich ihnen reingeschrieben, sie sollen so schnell wie möglich kommen, bei erster Gelegenheit. Die war die, die nie gekommen ist, die erste Gelegenheit. [Pause.] Das verstehe ich eben nicht. [Spricht sehr leise.] Wir haben überhaupt ziemlich spät erfahren, dass die alle ermordet worden sind.

 

LSY: Wann habt ihr das erfahren?

 

JK: Eigentlich erst nach dem Krieg. [Pause.]

 

 

Ende von Teil 1 [00:43:09]

 

 

Teil 2

 

     

LSY: Und kannst du dich noch an deine Ankunft erinnern?

 

JK: Hier?

 

LSY: In Palästina, ja.

 

JK: Nichts Besonders. [Beide schmunzeln.]

 

LSY: Hattest du bestimmte Erwartungen in deinem Kopf, wie es sein wird, in Eretz Israel?

 

JK: Wir waren so eingedrillt in den…in den Gedanken des Kibbuz, dass alles, was man mit uns gemacht hat, in Ordnung war. Am Anfang haben wir in alten Baracken gewohnt – überhaupt wir haben keine Wohnungen gehabt. Der Kibbuz war…war auch nicht vorbereitet, der Kibbuz war nicht schuld. Und die ersten Wochen waren überhaupt…was Bedingungen betrifft, war nichts da, aber schlechter wie es dort war, konnte es nicht sein. Im Gegenteil. Nur wir sind am Tag von Erew Pessach gekommen. Und im Gegenteil, ja, wenn man immer so ein Essen haben wird, das kann fantastisch sein. Wir haben nicht verstanden, dass das genau ein Feiertag ist…zufällig war. Wir sind ja einige Tage in Atlit gewesen, man hat uns dort geprüft, ob wir keine Spione sind oder vom Feindesland gekommen, und dann nach Gan Shmuel.

 

LSY: Und dann schon nach Gan Shmuel?

 

JK: Ja.

 

LSY: Was war hier schon, als du angekommen bist?

 

JK: Was hier war?

 

LSY: War hier schon--

 

JK: --ein Kibbuz? Ja, sicher, Gan Shmuel ist 1921 als Kibbuz…als Ansiedlungsplatz früher schon…aber als Kibbuz deklariert 1921.

 

LSY: Wie groß war eure Gruppe, die hierhergekommen ist?

 

JK: Wir waren die Jugend-Alija-Gruppe, wir sind hier…in Gan Shmuel war schon eine kleine Gruppe von polnischen Kindern, Jugendlichen. Und die beiden Gruppen wurden zusammen als Jugend-Alija-Gruppe deklariert. Und wir waren zusammen 30 ungefähr. Österreicher waren wir weniger. Wir waren, ich glaube, fünfzehn, sechzehn.

 

LSY: Der Rest waren Tschechen und Deutsche?

 

JK: Die sind dann nachher dazu gekommen. Deutsche zwei, drei und Tschechen einer oder zwei. Die sind dann nur dort…aber die Gruppe waren Polen und Österreicher.

 

LSY: Und wie hast du dich eingelebt in den ersten Jahren? War es schwierig für dich, dich hier zurechtzufinden?

 

JK: Nein, nein. Ich war…ich bin ein komischer Kauz, ich nenne mich…ziemlich schnell habe ich im Kuhstall gearbeitet…begonnen zu arbeiten. Dort war ein…[unklar] nennt man den, der hat sich wirklich bemüht, uns gut aufgenommen. Ich habe über zwanzig Jahre im Kuhstall gearbeitet.

 

LSY: Bist du mit dem Hebräisch schnell zurechtgekommen?

 

JK: Hebräisch? [Lacht.] Nach einem Monat habe ich an einer Vorstellung הצגה [hebr.: Vorstellung] teilgenommen, in Hebräisch, habe aber kein Wort verstanden, was ich gesagt habe. [Beide lachen.] Es war vor uns eine andere Jugend-Alija-Gruppe, die geendet hat und eine Vorstellung gemacht hat. Und ich weiß nicht warum, aber die haben mich eingeladen, ich soll mittun…habe ich mitgetan, war auch fein.

 

LSY: Aber ihr habt dann schnell angefangen, auch untereinander Hebräisch zu sprechen, und nicht mehr Deutsch?

 

JK: Ja. Wir mussten ja untereinander, mit den Polen konnten wir nichts anderes sprechen.

 

LSY: Ja, aber mit den anderen Österreichern?

 

 

2/00:05:07

 

 

JK: Das war schwieriger. Aber wir haben Hebräisch schnell…schnell Hebräisch gesprochen. Das war eine Ehrensache.

 

 

[Unterhalten sich über das Hörgerät von Herrn Kohn.]

 

 

LSY: Was ist mit dem Rest deiner Familie in Wien passiert, weißt du das?

 

JK: Oh, das…also, wie gesagt, in der Kriegszeit wusste ich eigentlich nicht, wer den Krieg überleben wird. Ich hatte einen Onkel, einen Bruder von meiner Mutter, der nach Australien geflüchtet ist, und die Tante, von der ich erzählt habe, die in Amerika geheiratet hat. Mehr eigentlich wusste ich nicht…wer lebt, wer nicht lebt. Und auch die wussten es eigentlich nicht. Von Europa sind keine Nachrichten gekommen. Nach dem Krieg habe ich angefangen die ganze Information zu sammeln. Wo ich konnte, sind wir hingefahren, sind wir…ich bin nach Wien gefahren. Aber dann habe ich langsam begonnen, die Familie zu sammeln. Viele sind…viele von den Onkeln und Tanten sind umgekommen. Die Cousins, sie leben, die vier.

 

LSY: Die konnten noch in andere Länder flüchten?

 

JK: Zum Teil, zum Teil. In England sind einige, in Palästina – hat sich dann herausgestellt – ist eine Familie…sind einige Familien. Jugendliche sind auf allen möglichen Wegen nach Palästina gekommen. Aber von der Familie sind…die älteren Leute sind alle umgekommen.

 

LSY: Weißt du, wohin sie deportiert worden sind?

 

JK: Ja. Die meisten sind nach…der große Teil nach Theresienstadt, ein Teil ist nach Riga. [Pause.] Und die anderen weiß ich eigentlich nicht. Ich glaube, die meisten sind zuerst nach Theresienstadt und von dort weiter.

 

LSY: Nach Auschwitz?

 

JK: Ja. [Pause.]

 

LSY: Und man hat während der Zeit des Krieges hier gar keine Nachrichten davon bekommen, was mit den Juden in Europa passiert, man hatte keine Ahnung?

 

JK: Nein, überhaupt nicht. Nein, nein, nein. Auch die Nachricht von Jugoslawien ist nach dem Krieg eigentlich…erstens ist sie unrichtig gekommen, die erste Nachricht: Man schrieb in der Zeitung, dass die…die ganzen Leute vom Transport sind nahe von Šabac erschossen worden. Aber dann hat sich herausgestellt, das ist nicht wahr, nur die Männer sind erschossen worden, sozusagen als Racheakt…wegen einer…die Partisanen haben Deutsche ermordet. Und die Frauen sind nach Belgrad geführt worden und haben dann bis noch…bis Frühjahr [19]42…sind gehalten worden auch in einem Lager. Und dann hat man aus…aus Deutschland Autos gebracht, die eine besondere Einrichtung gehabt haben…wo das Gas vom Motor, vom Exhaustor hineingeleitet wurde und so sind die Frauen getötet worden. Die ersten Versuche von Gas. Und das hat sich alles nach dem Krieg er…war das. Aber das hat alles nach dem Krieg erst--

 

 

2/00:10:20

 

 

LSY: --wann bist du das erste Mal wieder nach Österreich gefahren?

 

JK: [Überlegt.] Kann mich nicht erinnern, welches Jahr das war. Wir haben einen Ausflug nach Europa gemacht. Und am Ende des Ausflugs, damals habe ich schon gewusst, dass in Wien…das habe ich dir ja noch nicht erzählt: In unserer Familie waren einige Teile, die mit Nicht-Juden verheiratet waren – Mischehen nannte man das. Und die haben den Holocaust überlebt, die Nazi-Ära. Und zwei von solchen Familien haben wir in Wien gehabt, das waren Cousins. Und da wussten wir dann, sie waren dort. Da waren wir im Briefwechsel und zu denen sind wir gefahren. Und dort habe ich auch viele, viele Nachrichten, vieles Neues erfahren. Obwohl die auch keine Kontakte gehabt haben, aber die haben die ganze Zeit in Wien gelebt. Da war überhaupt ein Onkel mit dem Namen Kohn, der hat den ganzen Krieg in Wien überlebt. Er war mit einer Nicht-Jüdin verheiratet, aber er war Volljude natürlich.

 

LSY: Wann hast du deine Frau kennengelernt?

 

JK: In Gan Shmuel.

 

LSY: Hier in Gan Shmuel?

 

JK: Ja. Die, mit der ich in Jugoslawien befreundet war, die war auch hier, aber wir sind auseinandergelaufen, warum kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber hier…sie ist von einem…sie war hier in Gan Shmuel mit einer anderen Gruppe, aus einem anderen Kibbuz. In vergangenen Jahren war es so, dass jede Gruppe, bevor sie endgültig in einen Kibbuz gegangen ist oder einen neuen Kibbuz gebaut hat, ein Jahr in einem Kibbuz gelebt hat, um sich zusammen zu kleben. Und sie war mit einer Gruppe von einem anderen Kibbuz da.

 

LSY: So habt ihr euch kennengelernt. Und dir hat von Anfang an das Leben im Kibbuz zugesagt?

 

JK: Mir? Hat mir niemand dann…niemand hat mich nachdenken lassen. Aber es hat mir gefallen. Mir gefällt es bis heute. Ich bin überzeugt, es ist die einzige Lebensweise, die mehr oder weniger den Menschen, die verschiedenen Lebens…Lebens…wie kann man sagen…Fronten befriedigen kann, wenn er ein gerechtes Leben will – privat wie nicht privat. Ich bin kein Engel und bin kein Heiliger, aber wenn du irgendwie halbwegs mit deinem Leben gerecht werden willst, finde ich, da gibt es nichts Besseres. Vorläufig hat man noch nichts erfunden, nicht einmal die…die Priester. [Beide lachen.]

 

LSY: Was sind deine Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg? Warst du in der Haganah?

 

JK: Ja, ich war beim Militär. Ich war zwei Jahre…zweieinhalb.

 

LSY: Wo warst du stationiert?

 

JK: Meine Heimatstation war Chadera. Aber von da…ich habe damals…ich bin zeugnismäßig in höherem Alter zum Militär gegangen. Damals war es so, dass der Kibbuz immer nur einen gewissen Prozentsatz von der jungen Bevölkerung zum Militär hat geben müssen, der andere musste zu Hause bleiben und arbeiten. Ich bin ziemlich spät eigentlich gegangen, der Krieg war schon zu Ende, der Befreiungskrieg. Und ich…wir haben…ich habe schon zwei Kinder gehabt…bin ich zum Militär gegangen. Und da hat man mich nahe dem Zuhause eingeordnet.

 

 

2/00:15:59

 

 

LSY: Kannst du dich noch erinnern, wie damals die Atmosphäre beim Befreiungskrieg war? Hat man Angst gehabt, diesen Krieg zu verlieren?

 

JK: Nein, nein. Das war der…wenn du mich fragst über den Befreiungskrieg, wo ich war…da in der Umgebung…die Kämpfe da in der Umgebung, obwohl es zum Teil gegen die irakische Armee…die irakische Armee ist da gewesen in den Bergen. Das war kein…es ist ein…ich rufe es gaga, gaga. Man hat gespielt, mehr oder weniger.

 

LSY: So hat sich das angefühlt?

 

JK: Ich habe das nicht allzu ernst genommen. Obwohl man auf uns geschossen hat, alles schön, und wir haben auf die geschossen. Da habe ich immer das Gefühl gehabt, die machen das, weil man das so spielen muss. Es war jeder…obwohl die sind ziem…ziemlich nahe gewesen, aber war--

 

LSY: --es hat euch nicht allzu sehr beunruhigt, damals?

 

JK: Beunruhigt? Sicher hat es beunruhigt. Ich weiß. Wir haben kein…ich [unklar], habe nie das Gefühl gehabt, dass es allzu viel gefährlich wird. [Hustet.] Das Gute war, dass wir den Ernst der Lage, der Situation, damals nicht verstanden. Wenn die dummen Araber gewusst hätten, wie schwach wir waren, die könnten uns…zu Fuß könnten sie uns überlaufen.

 

LSY: Wie kam dann deine oder eure Entscheidung nach Wien zu gehen und dort zu arbeiten in der Botschaft?

 

JK: Nicht in der Botschaft, beim Hachomer Hatzair. Ich war da der Leiter von Hashomer Hatzair. Alles andere was ich dazu…war zusätzlich, mit der jüdischen Jugend in Wien, mit der Sozialdemokratischen Partei in Wien, das war zusätzlich. Aber--

 

LSY: --also, hier in…warst du hier immer sehr aktiv im Hashomer Hatzair und dann hat man dich nach Wien schicken wollen, oder wie ist das gekommen?

 

JK: Ja, ich war auch hier in der Landesleitung vom Hashomer Hatzair und dann hat man mich nach Wien geschickt.

 

LSY: Wolltest du…hattest du auch Interesse daran, wieder in Wien zu leben für einige Zeit?

 

JK: Es war schön. Wir bereuen beide…es war eine gute Zeit, eine Veränderung. In Wien ist es angenehm zu leben, vor allem, wenn du…wenn du zu Hause bist, sozusagen. Wir haben uns schnell zu Hause gef…ich habe begonnen mich schnell zu Hause…Hava hat es ein bisschen schwerer gehabt am Anfang mit der Sprache, aber sie hat sich auch wohlgefühlt.

 

LSY: Und die Arbeit dort hat dir auch gut gefallen?

 

JK: Die Arbeit mit der Jugend? Ja. Ich habe so…so verschieden…verschiedene Arbeit ausgeübt. Hauptsächlich war ich, wie gesagt, im Kuhstall. Dann habe ich über zehn Jahre in der Fabrik gearbeitet, beim Export, Verkauf im Export. Dann war ich…wir haben eine Firma…auch Handel, Export. Da habe ich auch einige Jahre gearbeitet. Dann, du wirst lachen, ich war Leiter von unserer Mittelschule.

 

 

2/00:20:52

 

 

LSY: Ich lächle, lache nicht.

 

JK: Das heißt…ich war ein ziemlich, ziemlich Bunter.

 

LSY: Ja, sehr vielfältig.

 

JK: Aber ich bin zufrieden mit allem. Jetzt bin ich tätig im Speisesaal und schneide Brot. Um noch zu rechtfertigen, dass ich selber Brot esse.

 

LSY: Seid ihr auch danach noch öfter nach Wien gefahren, nachdem ihr dort gelebt habt?

 

JK: Nein. Nicht wegen dem, aber wir waren öfters in Wien, bei Durchreisen…alle möglichen Durchreisen. Vor allem geschäftlich war…bin ich öfter nach Europa gekommen und da habe ich immer einen Abstecher nach Wien…nach Wien gemacht.

 

LSY: Fühlst du noch eine Art…eine Verbindung zu Wien auch?

 

JK: Ja, ja.

 

LSY: Wenn du heute deine Identität beschreiben würdest, würdest du sagen, du bist vor allen ein Israeli und ein bisschen Österreicher, oder wie würdest du deine Identität beschreiben?

 

JK: Mich selber? Nein. Heute nicht mehr Österreicher. Israeli mit Spuren in der österreichischen Vergangenheit. Ich habe irgendwie Sentiments, ob ich will oder nicht will, das wird…vor allem, weil ich wirklich…außer der Hitlerzeit habe ich keine schlechten Erinnerungen. Es ist uns nie blendend gegangen, aber ich habe keine schlechten Erinnerungen.

 

 

[Eine Frau spricht kurz mit Herrn Kohn (auf Hebräisch).]

 

 

Ganz einfach, die ganze Atmosphäre war anders, ich war nicht anders als meine ganze Umgebung, in der ich gelebt habe.

 

LSY: Als ihr dann in den [19]70ern in Wien gelebt habt, hast du dich auch einmal mit Österreichern unterhalten über…über die Zeit…über die Hitlerzeit in Österreich?

 

JK: Nein.

 

LSY: Hat man das Thema vermieden?

 

JK: Nein, nein. Nicht dann…über die Hitlerzeit habe ich mich…haben wir viel gesprochen, wenn wir außerhalb Wiens waren. Zum Beispiel, waren wir im Sommerlager oder in irgendeinem Lager, da haben wir manches Mal…wir waren...wo das war…in der Wachau, oder nicht in der Wachau…irgendwo waren wir bei einem Pfarrer eingeladen, die ganze Gruppe von Hashomer Hatzair. Dort haben wir einmal ein Gespräch gehabt mit dem Pfarrer, der hat mich geärgert…haben wir ein bisschen gestritten. Er hat verneint, er hat nichts gewusst von der ganzen…das hat mich immer aufgeregt, wenn du hast nichts gewusst. Er war Pfarrer beim Militär. Da hast du nichts gewusst? Das war ein Gespräch, aber sonst, nein.

 

 

[Eine Frau sagt etwas auf Hebräisch.]

 

 

Als ich in גבעת חביבה [hebr.: Eigenname Givat Haviva, linkszionistische Bildungseinrichtung]  gearbeitet habe, im מורשת [hebr.: Erbe] [unklar] gearbeitet habe, war ich ein oder zwei Mal in Wien als sozusagen politische Mischlachat. Da haben wir natürlich gesprochen über den Holocaust [unklar]. מורשת [hebr.: Erbe], das ist die Arbeit gewesen.

 

 

2/00:25:16

 

 

LSY: Und was ist aber dein Eindruck davon, wie die Österreicher, die österreichische Gesellschaft mit dieser Vergangenheit umgegangen ist?

 

JK: Im Grunde genommen glaube ich, ist die österreichische Gesellschaft…hat sich nicht viel verändert. Man spürt es weniger auf der Straße. Ich…ich habe nie, nie, nie irgendwas gesehen…gehört, dass man Juden angegriffen hat, jetzt in der letzten Zeit…wenn ich spreche. Nichts davon gesehen, aber, bin überzeugt, es ist vorhanden.

 

LSY: Dass es viel Antisemitismus in der Gesellschaft--

 

JK: --sie sind ein bisschen klüger geworden, nicht das…das nicht zu zeigen. Aber im Grunde genommen: Gescheiter sind sie nicht geworden. Du wirst michentschuldigen. Wie benehmen…die Leute, mit denen du dich beschäftigst, wie benehmen sich die den Österreichern gegenüber?

 

LSY: Was meinst du? Die, die ich interviewe?

 

JK: Die älteren Leute.

 

LSY: Die ich interviewe?

 

JK: Ja.

 

LSY: Wie die…was die von den Österreichern halten?

 

JK: Ja.

 

LSY: Nicht viel. [Lacht.]

 

JK: Nicht viel.

 

LSY: Nicht viel, nein. Viele haben das Gefühl, dass die Österreicher sich nicht…also, dass der Antisemitismus irgendwie immer schon stark da war und auch heute noch sehr stark da ist.

 

JK: Die Frage ist, ob das im tagtäglichen Leben spürbar ist. [Pause.]

 

 

[Eine Frau sagt etwas auf Hebräisch.]

 

 

LSY: Was war für dich wichtig an deine Kinder weiterzugeben? Was für Werte, was für Ideen?

 

JK: In welcher Hinsicht weiterzugeben? Oder wa…ideologisch?

 

LSY: Ja, ideologisch oder allgemein für das Leben.

 

JK: Wichtig ist der…wichtig würde ich…dass der Kibbuz weiter existiert, was ich nicht ganz sicher bin.

 

LSY: Machst du dir darüber Sorgen, dass das--

 

JK: --ja. Ja, die Bevölkerung vom Kibbuz ist heute etwas ganz anderes. Die Zusammensetzung: Sind so viele…die jungen…die jungen Leute vor allem, die zum Kibbuz dazu kommen, haben eigentlich mit dem Kibbuz nichts zu tun. Zu viele haben in den Kibbuz reingeheiratet, und das verändert die Atmosphäre oder die…die Meinungsverschiedenheiten. Sozusagen die Stellungnahme zu verschiedenen Problemen, die in der Vergangenheit immer einen pol…ideologischen Hintergrund gehabt haben. Nicht immer hat man alles ideologisch genommen, aber irgendwo war der Hintergrund vorhanden. Heute ist das bei den Jugendlichen allzu viel und das verändert, das verändert die ganze Atmosphäre. Und auch die Ideologie, auch die…die Stellungnahme zu Problemen, und das gefährdet den Kibbuz. Dass so viele Kibbuzim heute die Wei…die Lebens…die Lebensweise verändern, das ist kein Zufall. Dieser Prozess gibt es in allen Kibbuzim. Und das ist das Gefährliche…oder das Schlimme – gefährlich ist gar nichts, sie werden weiterleben, aber anders. Und das ist schade.

 

LSY: Machst du dir auch Gedanken um die Zukunft von Israel?

 

JK: Von Israel?

 

LSY: Ja.

 

 

2/00:29:51

 

 

JK: [Lacht.] Ich werde eine Antwort geben, die frech ist. Als ich in der Fabrik arbeitete, haben wir ein neues Produkt verkaufen wollen, verbreiten wollen: Tomatenpulver. [Pause.] Und unter anderem haben wir eine Adresse gehabt von einem großen Industriellen in Deutschland, in Hamburg. Und ich bin zu ihm dorthin gekommen, eine große Firma, kann mich nicht erinnern, wie sie heißt. Gesprochen, wie gut das Produkt ist, und zum Schluss hat der gute Mann gesagt – ich weiß nicht, warum – aber er sagte: „Aber wenn ich mit Ihnen einen Kontrakt mache, wie können Sie mir versprechen, dass Sie die Lieferungen jahrelang ausüben können?“ Sagte ich: „Wie meinen Sie?“ Sagte er: „Ob Israel so lang existieren wird“, sagte er. Sagte ich: „Lieber Mann, so wie Hitler Ihnen das ewige Dritte Reich versprochen hat, kann ich Ihnen sicher versprechen, dass Israel länger bestehen wird als das Dritte Reich. Dankeschön für die Begegnung.“ Und bin gegangen.

 

 

2/00:32:01

 

 

[Ende des Interviews.]