LSY: Mit 30 haben Sie angefangen Sozialarbeit zu lernen?
HR: Mit 30 habe ich…ja. Wieso hat man mich da überhaupt genommen bitte? Wissen Sie, ich konnte weniger Iwrit als Sie, damals. Woher hätte ich…mit wem habe ich geredet…ich habe ja mit niemanden geredet. Also schreiben und lesen konnte ich überhaupt nicht. Iwrit…Straßen und so was.
LSY: Warum haben Sie sich damals entschlossen, Sozialarbeit nochmal zu studieren?
HR: Weil ich mein ganzes Leben einen Beruf wollte. Beruf ist teurer wie alles andere. Eine Frau muss einen Beruf haben, damit sie selbstständig sein kann. Unabhängig sein kann…auch ein Mann. Ich habe ja nicht geheiratet, damit jemand mich aushält. Ich habe oft meinen Mann ausgehalten. Bei harter Arbeit. Das war überhaupt nicht das Wichtige. Aber ich mich selber…mein Vater hat gesagt: „Nimm von niemanden etwas, arbeite…und das isst, was du verdienst.“ Und das war mein…das war mein Dings. Ich habe angefangen Geisteskranke aufzunehmen. Das ist eine Geschichte…auch eine Geschichte. Und habe gehabt Geisteskranke im Alter von sechzehn bis 50 Jahre. Jüngere, ältere. Ohne Frigidär, ohne Waschmaschine, ohne…gekocht, gewaschen, gemacht, alles. Ich war damals über zwanzig…21, 22 mit zwei kleinen Kindern…die Raja war noch ein Baby. Ich habe das alles geschafft. Erst habe ich eine, dann zwei Schizophrene gehabt, dann drei. Ich wusste damals nicht was Geisteskrankheit ist. Ich wusste damals nicht was schizophren…ich wusste gar nichts. Ich bin mit vierzehn ungebildet weitergegangen in meinem Leben. Ich wusste gar nichts. Ich habe auch kaum Bücher gelesen. Ich war viel zu müde, ich habe viel zu schwer gearbeitet.
[Übergang/Schnitt.]
LSY: …wie Sie zur Universität gekommen sind.
HR: Also wie gesagt, wir haben dieses schöne Haus gemietet in Ramat Gan. Ramat Gan, das ist ein…das ist ungefähr…damals war es eine Stunde von Tel Aviv, heute ist es…zwanzig Minuten. Und der David hat damals Arbeit gefunden…das war in einer fürchterlichen Zeit von Hunger und…Arbeit gefunden. Da war eine private Irrenanstalt ohne Pfleger und den David haben sie angestellt als Pfleger. Nicht einmal ein Koch war dort, also er hat das…was immer er dort gemacht hat. Und dieses Haus war zu mieten, ein komplettes Haus mit Möbeln, mit Geschirr, mit allem. Weil wir hatten ja nichts. Wir hatten ja nicht einmal Unterwäsche genug für uns selber…also wir hatten ja nichts. Aber das Haus war zu mieten, für 33 Pfund im Monat, wo der David 33 Pfund im Monat verdient hat. Das heißt wir haben dort zwei Monate gewohnt und keine Miete bezahlt und wir mussten dann raus aus dem Haus mit zwei Babys. Und inzwischen haben uns die Nachbarn ein bisschen kennengelernt, das hat lauter…ein Deutsch sprechendes Dorf, nur von Ostdeutschland irgendwo waren die meisten. Und kommt eine Nachbarin und sagt zu mir…sie hat gesehen, ich suche Arbeit im Haushalt, Waschen, Aufwaschen und so weiter. Sagt sie: „Schau: Da ist ein Mann, der sucht eine Unterkunft für seine Mutter, die vertragt sich nicht mit ihrer Schwiegertochter. Vielleicht nimm du sie, du hast doch…“ Sage ich: „Ich nehme den Teufel, wenn er zahlt dafür.“
Also der Herr Oppenheimer kommt…ein Ingenieur aus Bnei Berak, ein sehr gut aussehender Mann und sagt zu mir…und sage ich: „Schauen Sie: Alles schön und gut, ich bin da zwei Monate Zins schuldig, ich habe nicht…ich kann nicht.“ Sagt er: „Wenn ich Ihnen den Zins bezahle und Ihnen das arrangiere…nehmen Sie meine Mutter?“ Sage ich: „Den Teufel nehme ich auch.“ Er bringt mir seine Mutter, eine kleine bucklige Frau, die war schizophren. Ich wusste nicht, was das ist…schizophren. Ich habe das in meinem Leben nicht gehört, das Wort. Ich habe überhaupt nichts gewusst. Und diese Frau war ein Jahr bei uns. Ich habe für sie Mittag gekocht, aber nicht für uns, weil so viel habe ich nicht gehabt zum Essen. Also ihr habe ich Essen gegeben. Und sie hat mir den Tod gemacht, sie hat mir Blut gesaugt. Jeden Abend bin ich schlafen…weinend schlafen gegangen. Inzwischen hat der David…ich habe nicht gewusst, warum sie mich so quält. So eine kleine Frau…ich konnte nichts dagegen machen, aber ich musste sie erhalten wegen dem Geld, weil er hat unseren Zins bezahlt. Der David hat inzwischen Arbeit gefunden in einem Kinderheim, nicht weit. Und das war so irgendwie ein Anfang schon von etwas…und so weiter.
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Nach dieser Frau, innerhalb der nächsten acht, neun Jahre hatte ich bis zu sechs, sieben Geisteskranke zur Pflege. Alte…alle Altersgruppen. Und alles allein gemacht: große Wäsche gewaschen, gekocht, gemacht…alles gemacht. Unsere Schulden abbezahlt, die sich…und so weiter. Und der David hat inzwischen…ist ins Lehrer-Seminar gegangen…er hat inzwischen gelernt. Er hat vormittags im Kinderheim…und dann ist er studieren gefahren, bei Nacht ist er zurück ins Kinderheim. Also das war…ein schönes Haus. Unsere Töchter erinnern sich an eine wunderschöne Kindheit in einer herrlichen Villa mit einem wunderschönen Garten, elegant eingerichtet…uns hat nicht ein Streichholz gehört davon. Und das ist ihre Jugenderinnerung. Unglaublich…unglaublich! Ich habe ganz andere Erinnerungen. Dass ich die Leute versorgen musste und dann bin ich rasch den Boden waschen gegangen. Beim Kreisler dort, weil ich ja Geld schuldig war, da habe ich den ihren Boden gewaschen, damit ich auch zahlen konnte. Ich habe wie ein Pferd gearbeitet. Ich habe noch Bekannte, die sich erinnern an mich. Und die Leute dort, das waren meistens Jeckes [Ugs. Bezeichnung auf Jiddisch für deutschsprachige jüdische EinwanderInnen in Palästina.], Deutsche, die haben uns geschätzt und gesehen, wie wir arbeiten. Trotzdem wir jung waren und…die sind alle mit Geld gekommen, die haben sich das kaufen können, das Haus…und die haben Hühnerställe gehabt. Aber die haben uns zu schätzen gewusst. Und sind uns irgendwie auch mit Achtung begegnet. Wir waren doch viel jünger.
Und so habe ich diese Jahre…und die ganze Lehrzeit habe ich…ich muss einen Beruf lernen. Ich habe nicht gewusst, dass es ein Beruf ist was ich mache. Ich war gewohnt an Arbeit. Also was war: Diese Kranken sind gekommen aus Spitälern. Damals hat es nicht gegeben was es heute gibt: halfway house. Die konnten von den Spitälern, von den psychiatrischen Spitälern, nicht zurück zu den Familien. Die Familien waren teilweise der Grund, dass das alles passiert ist dort. Und da haben sie gesucht, diese halfway houses…und ich war sozusagen ein halfway house. Und sie haben mir diese Kranken vom Spital gebracht. Die Psychiater…und die Psychiater sind dann auch gekommen kontrollieren, wie es ihnen geht. Und die kommen da zu uns nach Hause, und sehen mich mit meinen 22, 25, 26 Jahren…wie diese Geisteskranken, die gestern noch bei denen im Bett gelegen sind, weil sie geisteskrank sind, bei mir gearbeitet haben. Ich habe ja nichts Anderes gewusst. Ich habe denen gesagt: „Du, geh Geschirr waschen, du geh mach das, du geh mach das.“ Das ist alles, was ich gewusst habe, bitte. Nicht weil ich so gescheit war, weil ich so blöd war. Die Psychiater sind gekommen, haben ihren Augen nicht getraut.
Wie ich dann eines…wie der David fertig studiert hat, Lehrer geworden ist und seinen ersten Beruf als Lehrer in der Grundschule bekommen hat, habe ich gesagt: „Jetzt komme ich dran.“ Und meine Freunde, meine Verwandten haben gesagt: „Du bist nicht normal! Jetzt fängst du an zu verdienen…du verdienst Geld jetzt. Du zahlst deine Schulden, du verdienst, du kannst dir…“ Sage ich: „Ich arbeite nicht nur für Geld. Ich arbeite zum Essen. Jetzt hat der David…“ Winziges Gehalt hattest du als junger Lehrer. Ich muss einen Beruf lernen. Da war eine Sozialarbeiterin in der Gegend, die ist mich öfter besuchen gekommen, weil ich habe unter anderem als gute Nachbarin ein Baby von einer Nachbarin zur Pflege genommen, die Kinderlähmung bekommen hat. Amerikanerin. Und ich habe das Kind auch zu mir geholt, ohne Bezahlung. Und diese Nachbarin war auch Sozialarbeiterin. Da ist die immer nachschauen gekommen, wie das Baby bei mir ist und hat gesehen, was sich bei mir tut. Hat angefangen und gesagt: „Hedi, du musst lernen!“ Die hat mehr verstanden, was sie gesehen hat, wie was ich gewusst habe, dass ich mache. „Du musst lernen.“ Und die hat mir das so in den Kopf…was soll ich lernen? Ich will Schneiderin werden. Ich habe gefunden einen Arbeitsplatz als Schneiderin in Tel Aviv. Hat der David gesagt: „Kommt überhaupt nicht infrage!“ Sage ich: „Warum? Meine Mutter war Schneiderin, ich nähe gern.“ Hat er nicht erlaubt. Er war schon Lehrer, er hat schon bekommen…
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Dann habe ich angefangen…ich habe doch keine Zeugnisse gehabt, keine Matura, kein Abschluss, keine Mittelschule. Da habe ich angefangen, von den Psychiatern, die mir ihre Kranken gebracht haben, Empfehlungsschreiben… Und damit bin ich dorthin gefahren und habe denen das gezeigt. Iwrit habe ich gesprochen, aber auch…mein Iwrit ist kein schönes Iwrit, was ich mit denen spreche. Aber das ist…damals war es noch weniger. Schreiben, lesen konnte ich nicht. Die haben mich dreimal herausgeschmissen, mich nicht genommen. Das war damals in der Kyria in Tel-Aviv, was heute ist…Kyria. Und da war eine Child Guides Klinik, von einem Dr. Pollack…Pellet. Und der hat mich kennengelernt über mein…eine Zeitlang haben wir gearbeitet in einem Kinderheim für juvenile delinquents in Tel Mond…da hat er mich kennengelernt. Ich habe mir gedacht, ich nehme…ich gehe mal zu ihm. Sagt er zu mir: „Pass einmal auf! Lasse das hier bleiben. Mit den Zeugnissen, ich arrangiere dir, du kannst studieren in Amerika. In anderthalb Jahren machst du deinen Abschluss, wozu brauchst du da…“ Ich komme nach Hause, sagt der David: „Du bist ja nicht normal. Was mache ich mit den zwei Kindern? Kommt überhaupt nicht infrage!“ Also bin ich noch einmal zu der Schule und wie ich das vierte Mal dort war…das dritte oder das vierte Mal…bei der Direktorin…ruft sie eine von den Lehrerinnen und sagt noch: „Die war ja schon da.“ Die haben mich beide angefangen noch einmal zu interviewen, mit mir zu reden. „Was wirst du machen, wenn du wohnst anderthalb Stunden mit dem Autobus entfernt von Tel Aviv und hast zwei kleine Kinder im Haus?“ Die wussten nicht, dass ich damals noch Pflegekinder gehabt habe. Das habe ich ihnen überhaupt nicht erzählt. „Wie wirst du das machen?“ Und ich mit meinem großen Mund sage: „Das ist überhaupt kein Problem. Ich habe einen pressure cooker. Mit dem pressure cooker kann ich kochen eins, zwei, ist kein Problem. Das ist kein Problem.“ Und das war für mich auch kein Problem, ich habe es ja gemacht. Also, die haben mich aufgenommen. Ja, und die Empfehlung von dem Dr. Pellet. Dr. Pellet hat die angerufen…hat sich dann herausgestellt…hat denen gesagt: „Ihr müsst die nehmen. Die müsst ihr nehmen.“ Der hat mich gekannt von dem Kinderheim. So habe ich angefangen, dort zu lernen.
Ich konnte nicht…die Vorträge nicht mitschreiben, weil ich kein Hebräisch konnte. Da habe ich sie mitgeschrieben mit deutschen Buchstaben, mit lateinischen Buchstaben. Teilweise übersetzt in Englisch. Französisch war ich damals noch perfekt, noch aus Wien. Übersetze in Französisch, in Deutsch und in Hebräisch mit lateinischen Buchstaben, mitgeschrieben, Kritzelei, unmöglich zu entziffern. Bin nach Hause gekommen um fünf Uhr Nachmittag, der David ist am Abend nach Hause gekommen. Erst hat sich hingesetzt der, dann hat er das ganze übersetzt auf Hebräisch. Ud wie alle im Bett waren, habe ich mich hingesetzt, das Ganze abgeschrieben auf Hebräisch. So habe ich schreiben gelernt. Ich habe zwei Jahre lang Durchfall gehabt vor Angst. Jedes Mal, wenn die Direktorin die Tür aufmacht, wusste ich: Jetzt schmeißt sie mich raus. Ich habe Prüfungen in…mir Zettel gefälscht…da gemacht. [Deutet auf die Innenseite ihres Rocks.] Der David hat mir diese Prüfungen gemacht, mir übersetzt. Ich wusste nicht immer genau um was es sich handelt und habe das abgeschrieben. Ich werde Ihnen das Ende erzählen von dem. Aber wie es zu der praktischen Arbeit…und das…Sozialarbeit ist sofort praktische Arbeit, gleichzeitig. Da habe ich angefangen zu arbeiten und diese Madrechar, die ich gehabt habe, das hat die wahrscheinlich irgendwie beeindruckt. Ja, sie hat mich auch nicht herausgeschmissen. Und bei der praktischen Arbeit war ich sehr gut. Ich habe mich mit den Jemeniten verstanden und mit den Irakern…ohne Sprache, mit Persern, die konnten kein Hebräisch, ich konnte kein Hebräisch, aber wir haben uns verstanden. Ich habe mit den Menschen gearbeitet in Petach Tikwa…das ist bekannt, Petach Tikwa. Ich habe dort, jahrelang…nie hat mich jemand bedroht. Dort hat man Polizei gerufen, dort war es gefährlich…schon vor 50 Jahren, wie ich dort angefangen habe. Mich hat nie jemand bedroht. Ich habe diese Schule dort fertig gemacht.
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Die letzten…der letzte Tag waren drei Prüfungen…das hat einen Namen…mündliche Prüfungen von dem Ganzen was man gelernt hat. Mündlich. Und die letzte war Psychologie. Und wie ich mit allen fertig war, da war so…drei oder vier Professoren sind dort gesessen, die mich ausgefragt haben. Habe ich gesagt: „Darf ich jetzt…kann ich was sagen, bitte?“ Sage ich zu denen: „Ich möchte Ihnen bitte sagen, jetzt, wo ich am Ende bin, am Schluss bin: Ich war nie in einer Mittelschule, ich habe nie Matura…“ Ja, Entschuldigung! Matura habe ich gemacht. Ich musste Matura machen, damit sie mich ins zweite Jahr übernehmen. Das heißt…was habe ich Matura gemacht: ich habe gemacht London matriculation in Englisch, schriftlich. Und als Hauptfach habe ich angegeben Deutsch und Französisch und Hebräisch…was ich besser konnte wie die Engländer, die das dort geprüft haben. Das war meine matriculation. Auch ein Bluff, auch ein Schmäh. „Ich möchte Ihnen…dass ich das nie gemacht habe“, und so weiter. Und daraufhin sagt mir eine von meinen Lehrerinnen…da oben, diese Temaniya ist ein Geschenk von ihr. [Zeigt auf etwas.] Sagt zu mir: „Hedi, wir wussten das die ganze Zeit.“ Das heißt damals hat man Menschen aufgenommen, zu so einem Studium wie Sozialarbeit, nur, weil man beeindruckt war von der--
LSY: --Persönlichkeit.
HR: Von der Persönlichkeit. Und hat mich gelassen, zwei Jahre…ich habe Blut geschwitzt. Ich war ja zurück…die jungen…ich war 30 Jahre alt. Die anderen, die von der Mittelschule, die haben eine andere Bildung gehabt, abgesehen von Hebräisch. Blut habe ich geschwitzt. Und am Ende hat sie…Else Scherzer…eine Wienerin. Und wieso? Sie hat sich genau ausrechnen können, wo ich war die Jahre, die da gefehlt haben. Sagt so: „Hedi, wir wussten das die ganze Zeit.“ Und so habe ich meine…und ich habe eine schöne Karriere gemacht in der Sozialarbeit. Ich habe geendet, die letzten zwölf Jahre, beim Rechtsanwalt in der Rechtsabteilung vom Welfare Department. […]